Wie das Bewusstsein in Raum und Zeit entsteht.

Bei psychischen Krankheiten verändert sich die Wahrnehmung. Das beschäftigt den Psychiater und Neurowissenschafter Georg Northoff. Im Gespräch mit Lena Stallmach erklärt er, wie seine Theorie des Bewusstseins ihn auf neue Behandlungskonzepte brachte.

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«Theorien über das Bewusstsein sind wie Zahnbürsten. Jeder hat eine, und keiner will diejenige des anderen verwenden.» Das hat kürzlich ein Forscher an der Konferenz über Bewusstseinsforschung in Interlaken gesagt. Was halten Sie von diesem Vergleich? Das spiegelt sehr gut den Stand unseres Wissens: Wir wissen nicht, was Bewusstsein ist. Wir können es nicht definieren, wir kennen die neuronalen Mechanismen dahinter nicht, und es fehlen uns die Messinstrumente. Das zeigt, dass die Neurowissenschaft in einem sehr frühen Stadium ist, wie ein kleines Kind, das laufen lernt und umfällt, wieder aufsteht und weiter probiert.
Auch Sie haben Ihre eigene Theorie des Bewusstseins entwickelt. Ja, natürlich. Ich bin Philosoph, Psychiater und Neurowissenschafter. Ich habe deshalb verschiedene Einflüsse und Herangehensweisen, die ich in meinen Ansatz einbringe: Konzepte aus der Philosophie bei der Definition von Bewusstsein, verschiedene neurowissenschaftliche Modelle, und aus der Psychiatrie treiben mich die Phänomene um, die man sieht, wenn das Bewusstsein verändert ist.
Was das Bewusstsein ausmacht, ist schwer zu fassen. (Bild: Simon Tanner / Tanner)

Was das Bewusstsein ausmacht, ist schwer zu fassen. (Bild: Simon Tanner / Tanner)

Was macht Ihre Theorie aus?

Für mich sind Raum und Zeit ganz wesentliche Merkmale des Bewusstseins und auch des Gehirns. Aber wenn ich von Raum und Zeit spreche, meine ich nicht die Zeitpunkte, die wir wahrnehmen und messen. Sondern ich meine die Konstruktion oder besser gesagt die Dynamik von Raum und Zeit, die auch die Physiker meinen, wenn sie dynamische Systeme beschreiben. Das Gehirn konstruiert seinen eigenen räumlichen und zeitlichen Maßstab. Laut meiner Theorie des Bewusstseins ist die Dynamik von räumlich-zeitlichen Eigenschaften sowohl im Gehirn als auch im Bewusstsein manifest und kann so in die eine oder andere Form transformiert werden.

Es findet also eine Transformation von neuronalen Aktivitäten in die erfahrbare Form der Gedanken statt, und die zeitlich-räumliche Dynamik ist die gemeinsame Währung dieser Aktion, so beschreiben Sie es in einer Publikation. Können Sie das genauer erklären?

Nehmen Sie als Vergleich die Weltwirtschaft: Da haben viele Länder unterschiedliche Währungen, zum Beispiel die Schweiz den Schweizerfranken und Kanada den kanadischen Dollar. Wenn die beiden Länder miteinander handeln wollen, brauchen sie eine Referenz, eine «common currency», um die beiden Währungen miteinander zu verrechnen. Das ist der US-Dollar im gegenwärtigen Weltwirtschaftssystem. Und genauso, würde ich sagen, ist die räumlich-zeitliche Dynamik die gemeinsame Währung für das Gehirn und das erlebte Bewusstsein.

Sie sehen neuronale und mentale Prozesse also einfach als zwei verschiedene Währungen, die ineinander transformiert werden können? Da machen Sie es sich aber leicht im Vergleich zu anderen Bewusstseinsforschern. Viele sehen es als ein grundlegendes Problem, dass physische und mentale Prozesse zwei komplett verschiedene Phänomene sind, die man nicht einfach ineinander überführen kann.

Das ist eine sehr gute Anmerkung, die ich sehr schätze. Der Hintergrund der anderen Theorien ist, dass Bewusstsein als etwas sehr Spezielles gesehen wird. Das kann auf die Philosophie zurückgeführt werden und ultimativ auf René Descartes. Dieser hielt Bewusstsein für grundsätzlich unterschiedlich zum Körper, er nahm eine separate Substanz an: den Geist. Das ist das berühmte Geist-Körper-Problem. Viele der gegenwärtigen Bewusstseinstheorien stehen in dieser Tradition. Sie gehen zwar nicht von einer separaten Substanz aus, aber von einem separaten Prozess im Gehirn, der nur für das Bewusstsein zuständig ist und der sich unterscheidet von allen anderen Prozessen im Gehirn, die nicht für das Bewusstsein zuständig sind. Man kann also durchaus von einem «neuronalen Kartesianismus» sprechen. In meiner Theorie versuche ich, diesen neuronalen Dualismus im Gehirn aufzulösen. Ich schaue mir die Gemeinsamkeiten an und gehe dabei noch einen Schritt weiter zurück: Ich mache das nicht an neuronalen Eigenschaften fest, sondern an räumlich-zeitlichen Eigenschaften, die die Transformation von physischen in mentale Aktivitäten produzieren.

Und wie sieht die räumlich-zeitliche Dynamik im Gehirn aus?

Die Hirnaktivität ist nie in Ruhe, sie fluktuiert ständig, auch wenn wir einfach nur unseren Gedanken nachhängen. Die Fluktuation kann sehr schnell oder langsam sein, man spricht von verschiedenen Frequenzen. Millionen von Nervenzellen produzieren schnellere und langsamere Frequenzen über das Gehirn verteilt. Die langsamen Frequenzen haben viel Kraft – wie etwa große Wellen auf dem Meer im Gegensatz zu den kleineren, schnellen Wellen, die weniger Kraft haben. Die Wellen stehen in einer Beziehung zueinander und das führt zur Konstruktion einer räumlich-zeitlichen Struktur.

Sie haben gezeigt, dass diese Struktur mit mentalen Prozessen korreliert.

Ja, bestimmte Variablen der räumlich-zeitlichen Struktur korrelieren zum Beispiel mit unserem Selbstbewusstsein (Anm. der Red.: Gemeint ist hier nicht die Selbstsicherheit, sondern das Bewusstsein für die eigene Person, also wenn man über sich selbst nachdenkt). Wenn Menschen viele starke und langsame Wellen haben, dann haben sie ein stärkeres Bewusstsein ihrer selbst als andere Menschen, die wenige langsame Wellen und mehr schnelle Wellen haben.

Das haben Sie bei Probanden gemessen, die im Ruhezustand waren, also mit geschlossenen Augen einfach nur ihren eigenen Gedanken nachhingen.

Genau, wir haben uns dabei auf Hirnregionen konzentriert, die in der Mitte der Hirnrinde liegen, wo die Informationen aus dem Gehirn zusammenlaufen. Diese mittleren Regionen sind bekannt dafür, dass sie aktiv werden, wenn man sich nach innen wendet. Wir konnten zeigen, dass die zeitliche Struktur zwischen den schnellen und langsamen Wellen ganz zentral ist für das Selbstbewusstsein.

Mit der Struktur meinen Sie die Relation zwischen langsamen und schnellen Wellen?

Genau, die Struktur ist die Relation. Das ist wichtig, denn das Ich-Gefühl operiert über verschiedene Zeitskalen hinweg, und je mehr diese neuronalen Wellen miteinander verknüpft sind und in einer Beziehung zueinander stehen, desto stärker ist das Bewusstsein für die eigene Person. Das zeigen unsere Ergebnisse.

Aber die Messung war eine Momentaufnahme. Das Selbstbewusstsein haben Sie dagegen mit einem Fragebogen erfasst, der eine generelle Tendenz erfragt, wie zentral die Beschäftigung mit der eigenen Person im Leben der Probanden ist, oder?

Das stimmt, das ist ein guter Einwand. Es ist eine Momentaufnahme, und natürlich ist diese Beziehung zwischen den schnellen und langsamen Wellen nicht in Stein gemeißelt. Sie verändert sich über das Leben hinweg und in Abhängigkeit von der Umwelt. Wenn Sie ein Trauma erleben, dann kann das einen Einfluss haben. Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass Menschen, die in der Kindheit Traumatisches erlebt haben, später im Leben mehr schnelle Wellen und mehr Unordnung, also mehr Entropie, in der Struktur aufweisen. Die räumlich-zeitliche Struktur ist nicht einfach im Gehirn verankert, sondern sie reflektiert die Interaktion mit der Umwelt und die Erfahrung einer Person, die ganze Lebensgeschichte. Ohne Interaktion gibt es auch kein Bewusstsein.

Und was bedeutet das für die Psychiatrie?

Die grundlegende Idee meiner Theorie ist, dass die räumlich-zeitlichen Eigenschaften ihres Gehirns umschlagen in korrespondierende räumlich-zeitliche Erlebnisweisen des Bewusstseins. Nehmen wir als Beispiel Menschen mit einer bipolaren Störung. Diese haben abwechselnd depressive und manische Phasen. Viele depressive Menschen empfinden sich als zu langsam. Sie beklagen sich, dass sie kaum auf neue Gedanken kommen und die Zeit stehenbleibt. In einer manischen Phase ist es genau umgekehrt, sie denken und reagieren extrem schnell, die Welt kommt ihnen zu langsam vor. Wir haben gesehen, dass bei depressiven Menschen die neuronale Aktivität in diesen mittleren Regionen der Hirnrinde auch zu langsam war.

Inwiefern?

Da findet keine Veränderung in der Aktivität statt, es gibt keine Dynamik. Bei manischen Patienten haben wir das Gegenteil gesehen, die Dynamik in den Netzwerken war hier zu schnell.

Zu schnell und zu langsam im Vergleich wozu?

Im Vergleich zur äußeren Welt. Wenn ich Dinge aus der Welt wahrnehme und die Signale schneller als die innere Aktivität sind, dann nehme ich mich selber als zu langsam wahr. Zu uns kam einmal eine junge depressive Patientin mit ihrer Mutter. Sie sagte kein Wort. Später erzählte sie mir, dass sie das Gefühl hatte, dass ihre Mutter extrem schnell sprach, viel zu schnell für sie. Tatsächlich haben wir bei dieser Frau gesehen, dass die Hirnaktivität im Ruhezustand sehr langsam war.

Kann man das Vergleichen mit dem Zustand, wenn man müde ist und alles um sich herum als zu schnell empfindet?

In gewisser Weise schon. Je wacher und präsenter man ist, desto schneller ist die Hirnaktivität. Wenn man einschläft, verschieben sich die Frequenzen von schnellen zu langsamen Wellen, irgendwann verliert man das Bewusstsein. Depressive Menschen sind natürlich nicht wie im Schlaf, sie sind bei Bewusstsein, aber ihre Gedanken kreisen immer um den gleichen Inhalt, es verändert sich nichts. Bei manischen Personen ist es genau umgekehrt. Da verändert sich alles sehr schnell, sie sind zu schnell für die äussere Welt.

Und wie kommt es dazu?

Warum diese Raum-Zeit-Dynamik verschoben ist, wissen wir nicht. Wahrscheinlich stecken biochemische Faktoren dahinter, bestimmte Botenstoffe, die für die Hemmung oder die Anregung von Nervenzellen zuständig sind und aus dem Gleichgewicht geraten sind.

Aber auch einzelne Erlebnisse oder Lebensbedingungen können diese räumlich-zeitliche Struktur im Gehirn verändern?

Genau, das ist ja das Zentrale an der Theorie, dass die räumlich-zeitliche Struktur im Gehirn sehr sensitiv auf äussere Einflüsse reagiert. Das sieht man auch bei psychischen Krankheiten, zum Beispiel können Depressionen durch persönlich bedeutsame Erlebnisse ausgelöst werden.

Und was bedeutet das für Ihre Arbeit als Psychiater?

Wir sehen die Symptome der Patienten als räumlich-zeitliche Phänomene. Die Hoffnung ist, dass wir aufgrund dessen auch bessere Therapien entwickeln können. Bei manisch-depressiven Patienten versuchen wir zum Beispiel, die individuellen Abweichungen in der räumlich-zeitlichen Struktur zu identifizieren. Wir schauen, welche Frequenzen zu stark oder zu schwach vertreten sind, und versuchen dann darauf, Einfluss zu nehmen, beispielsweise mit Musik. Wir haben beobachtet: Wenn wir einem sehr langsamen Gehirn, sehr schnelle Musik präsentieren, dann kann die Person nichts damit anfangen. Aber wenn wir die Musik etwas schneller präsentieren als das Tempo im Gehirn, dann können wir das neuronale Tempo mit der Zeit vielleicht etwas beschleunigen. Diese Hypothese prüfen wir gerade in einer laufenden Studie.

Das klingt nach einer sehr sanften Methode der Hirnstimulation. Interessieren Sie sich auch für andere Methoden der Neurostimulation? In diesem Gebiet läuft derzeit ja viel.

Ja, das stimmt. Wir führen in Ottawa auch eine Studie mit der transkraniellen Magnetstimulation durch. Bei depressiven Patienten versuchen wir aufgrund ihres individuellen «Powerspektrums», also der Kombination aus schnellen und langsamen Wellen, einzelne Wellen zu verstärken oder zu schwächen. Wenn zum Beispiel ein Patient im Bereich von 5 Hertz zu wenig Power hat, dann versuchen wir das Gehirn entsprechend zu stimulieren.

Und das funktioniert so gezielt?

Noch nicht, aber wir sind dabei, es zu entwickeln. Wenn wir sehen, dass es funktioniert, dann kann man sagen, dass die Theorie der Psychiatrie geholfen hat. Aber es wäre gleichzeitig auch ein schöner Beweis für diese Theorie.

Erfahren Sie mehr über Georg Northoffs Theorie des Bewusstseins in seinem Buch: Neuro-Philosophy and the healthy mind: Learning from the Unwell Brain. Norton Professional Books 2016.