Wie die Märchen entstanden sind und woher sie kommen

In den Schriftzeugnissen aller frühen Hochkulturen finden sich märchenhafte Züge, so bereits im Gilgamesch-Epos, das Motive enthält, die auch in Märchen vorkommen. Das Alte Ägypten war reich an Zauber- und Tiergeschichten. Indien wird eine vermittelnde Rolle zwischen den Erzähltraditionen Asiens und des Vorderen Orients zugeschrieben. Augenscheilich jedoch noch nicht erklärt, ist die Tatsache, daß sich identische Märchenmotive in weit auseinander liegenden und einander ganz fremden Kulturen finden. Gerade dieser Umstand ist eine der faszinierendsten Beobachtungen in der Märchenforschung. Tatsächlich beziehen sie sich jedoch immer auch deutlich auf soziale Realitäten in ihren Entstehungskontexten, auch wenn Motive von Land zu Land entlehnt wurden.

Altertum

Neben Indien, Griechenland und Rom ist Ägypten eine Wiegeunserer europäischen Märchen: So hat beispielsweise dasMärchen von der zwei Brüder Anup und Bata Ähnlichkeit mit deralttestamentarischen Geschichte von „Joseph und Potphar‘s Frau“,die in Ägypten spielt.Bereits bei den Griechen waren Zaubermärchen und Geschichtenüber Riesen und Zwerge sehr beliebt. Eines der bekanntestenüberlieferten Märchen ist die Erzählung von dem ZyklopenPolyphemos, der die Gefährten des Odysseus frisst.Der römische Dichter Lucius Apuleius (125-180 v. Chr.) hat densatirischen Sittenroman „Metamorphosen“ geschrieben, in dem unseines der ersten römischen Märchen mit dem Titel „Amor undPsyche“ überliefert worden ist.

Europäisches Mittelalter

Kreuzfahrer brachten über Spanien und Byzanz Märchen nachEuropa. Heldensagen erinnern in z.B. der Artussage bis heute andiese Wurzeln.Das Märchen vom gutgläubigen König ist unter dem Namen „DerMeisterlügner“ seit dem 10. Jahrhundert bis heute bekannt: Darinsoll derjenige, der eine Lüge erzählt, die nicht einmal der naiveKönig glaubt, die Königstochter zur Frau bekommen.Zwischen 1000 und 1050 schrieben vermutlich Mönche imbayerischen Kloster Tegernsee den Rudolieb auf. Das inlateinischen Hexametern gehaltene Werk gilt als der erste freierfundene deutsche Roman. Heute sind nur mehr Bruchstücke derHandschrift erhalten. Der „Rudolieb“ spiegelt eine gesamte Epochewieder. In dem Roman wird vom Leben am Fürstenhof, inBauernhäusern, auf Ritterburgen, in Dörfern und von Festenerzählt.Das lateinische Märchen Asinarius haben die Brüder Grimm unterdem Namen „Das Eselein“ bekannt gemacht. Die Fassung in den„Grimmschen Kinder- und Hausmärchen“ lehnt sich an dieÜbersetzung eines Gedichtes an, die in acht Handschriften inverschiedenen Städten von München bis Leningrad vorliegt. Dieälteste dieser Handschriften stammt spätestens aus dem 14.Jahrhundert. Der Ursprung des lateinischen Originals lässt sich bisin die Römerzeit zurück führen, nämlich auf das Motiv derErzählung von „Amor- und Psyche“. Außerdem gibt es uralteindische Erzählungen, von vornehmen Jünglingen in Tiergestalt(Adler, Affe, Esel etc.), die ihre menschliche Gestalt auf die gleicheWeise zurück gewinnen wie der Prinz im Märchen „Das Eselein“.

Moderne/Neuzeit

In Italien schrieb der Dichter Francesco Straparola 1550/53 „Lepiacevoli notti“ – Die ergötzlichen Nächte. Unter den 73Erzählungen in dem Band finden sich auch 21 Märchen. Daruntersind die bekannten Geschichten: „Der Meisterdieb“,„Zauberlehrling“, „Der gestiefelte Kater“ und „Der Drachentöter“, diein die Grimmsche Sammlung der „Kinder und Hausmärchen“eingegangen sind.Mit dem Märchen von Martin Montanus „Erdkühlein“, aus demBuch „Gartengesellschaft“ (um 1560) begann die eigentlicheGeschichte des abendländischen Märchens.Im Jahr 1557 sammelt der Dichter Schwänke als Zeitvertreib undWegkürzer auf Wanderungen – und nannte es auch so:„Schwankbuch Wegkürzer“. Eines der bekanntesten Märchendarin ist das „Tapfere Schneiderlein“. Außerdem übersetzte ereinige Novellen aus dem Decamerone („Zehntagewerk“) von Boccaccio, das im 16. Jhd. gerne gelesen wurde. Das Decameronebesteht aus 100 Novellen, die durch eine Rahmenhandlungverbunden sind. Viele bekannte Motive der europäischen undorientalischen Literatur – so z. B. die Ringparabel in „Nathan derWeise“ von E.G. Lessing – stammen aus Boccaccios Werk.

Barock

In Anlehnung an das „Decamerone“ schrieb Giambattista Basile(1575 – 1632) das Pentameron, also das „Fünftagewerk“. In dendort aufgeschriebenen Märchen finden sich z.B. Parallelen zu„Tischlein deck dich“, „Der gestiefelte Kater“, „Schneewittchen“,„König Drosselbart“ und „Dornröschen“. Das Werk von Basile, dasursprünglich in neapolitanischer Mundart verfasst war, wurde insItalienische übersetzt und beeinflusste in der Romantik ClemensBrentano und die Brüder Grimm.Einer der bekanntesten französischen Dichter des Barock, CharlesPerrault (1628-1703), rezensierte das „Pentamerone“ von Basileund schrieb daraufhin selber einen Band „Märchen fürErwachsene“. Darin finden sich wiederum die Märchen„Dornröschen“, „Rotkäppchen“, „Blaubart“, „Der gestiefelte Kater“,„Frau Holle“ und „Aschenputtel“.Ebenfalls ein Franzose, Antoine Galland (1646-1715), derallerdings aus Arabien stammte, übersetzte die Märchen aus 1001Nacht ins Französische. So gelangen die arabischen Märchennach Europa. Die arabische Märchensammlung, die ursprünglichAlf laila wa-laila“ hieß, versammelt über 300 Märchen, Legenden,Anekdoten, Parabeln, Gedichte und anderes mehr. Zusammengehalten wird die Sammlung von einer Rahmenhandlung indischerHerkunft: Scheherezade, die kluge Wesirs-Tochter, hält den Königdurch ihre fesselnden Erzählungen davon ab, sie zu töten. Aus„1001 Nacht“ stammen z.B. die Märchen „Sindbard der Seefahrer“,„Aladin und die Wunderlampe“ und „Ali Baba und die 40 Räuber“.

Aufklärung

Der deutsche Dichter Johann Karl August Musäus (1735-1787)stellte 1782-1786 dieerste deutsche Märchensammlungzusammen, die „Volksmärchen der Deutschen“. In seinerachtbändigen Märchen- und Sagensammlung ist der Geist derAufklärung deutlich zu spüren. Dennoch war seine etwasschulmeisterliche Sammlung der Wegbereiter für den Erfolg der„Kinder und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm.

Romantik

Am Ende der mehr als 2000 Jahre währendenEntstehungsgeschichte der Märchen stehen die Gebrüder Grimm.Dem Forscher- und Sammlerfleiß der beidenSprachwissenschaftler ist es zu verdanken, dass die alteErzähltradition nicht vollends in Vergessenheit geraten ist: 1812gab der Verleger Reimer die erste Ausgabe der „Kinder- undHausmärchen“ von Jakob und Wilhelm Grimm heraus. Drei Jahrespäter erschien der zweite Band. Die Grimms hatten für ihreSammlung die unterschiedlichsten Quellen und Vorbilder: An ersterStelle stand die Recherche in der königlichen Bibliothek in Kassel.Dort forschten sie anfangs für den Dichter Clemens Brentano nachalten Märchen. Später begannen sie systematisch, die Märchenvon Gewährsleuten zu sammeln; darunter August von Haxthausen,Friederike Mannel, Dorothea und Gretchen Wild, Jenny undAnnette von Droste-Hülshoff aus dem Bökendorfer Märchenkreis,sowie die mündlichen Erzählungen von Marie Hasenpflug undeinem der wenigen männlichen Zulieferer – dem Soldaten Krause.Dazu kommen die beiden französischen Skandal-Damen Madamed’Aulony und Madame de la Force, die in Paris einen literarischenSalon unterhalten. Märchenerzählen wurde dort derart modern,dass Mme D’Aulony selbst mehrere Bände mit Feen-Märchen(„Contes des fées“)zusammentragen kann. 37 Märchen in denGrimmschen „Kinder- und Hausmärchen“ stammen von derWirtstochter Dorothea Viehmann, die zu den Dienstboten derBrüder Grimm gehört. Nicht zu vergessen der Einfluss von CharlesPerrault: Die Märchen-Sammlung des Franzosen und dessenRezensionen des „Pentameron“ sind wichtige Vorlagen für die„Kinder und Hausmärchen“. Die letzte Originalausgabe derMärchensammlung erschien im Jahre 1856 und wurde in 70Sprachen übersetzt. Der Band enthält 211 Märchen.

19./20. Jahrhundert

Nach der Epoche der Märchensammler brach die Zeit derEthnologen und Sprachforscher an. Sie beschäftigten sich mit derÄhnlichkeit der Märchen aus unterschiedlichen Kulturkreisen undsuchten nach Ursprung und Sinndeutung der alten Erzählungen.Mit der Interpretation von Märchen versuchten Ethnologen, denSitten, Denkgewohnheiten und Traum-Erfahrungen sogenannterprimitiver Kulturen auf die Spur zu kommen. Literaturhistorikerwidmeten sich der Frage, wann und wo Märchen entstanden sind.Theodor Benfey kam dabei zu einem überraschenden Schluss:Das Ursprungsland beinahe aller Märchen ist Indien.

 
Herkunft

Zu den Fragen nach den Ursprüngen der weltweiten Märchentradition lassen sich nur Vermutungen anstellen; Genaueres über die Herkunft, wo und zu welcher Zeit sie ihren Anfang nahmen, wer Märchen für wen und mit welchen Intentionen erfunden hat, lässt sich bis heute nicht feststellen. Das ist unter anderem auf die totale Anonymität der ErfinderInnen und ErzählerInnen sowie auf die zunächst jahrhundertelang ausschließlich mündliche Überlieferung zurückzuführen. Die Anfänge der geheimnisvollsten Geschichten der Weltliteratur bleiben selbst ein Geheimnis.Früheste Aufzeichnungen märchenhafter Themen und Motive, die meist in größeren, anderen Zusammenhängen begegnen, finden sich in nennenswerten, wenn auch höchst sporadischen Zeugnissen seit etwa 5.000 Jahren in der antiken Welt, vom sumerischen Gilgamesch-Epos (um 3.000 v. Chr.) und dem sogenannten ägyptischen Zweibrüdermärchen (13. Jahrhundert v. Chr.) über das Alte Testament (um 1.000 v. Chr.) und Homers Odyssee(8. Jahrhundert v. Chr.) bis zum Amor und Psyche-Roman des römischen Dichters Apuleius (2. Jahrhundert n. Chr.). Vollständige und selbstständige Märchenerzählungen sind erst lange nach der Zeitenwende vornehmlich in Indien und im Orient (zunächst wiederum nur mündlich) überliefert.Die erste Veröffentlichung eines genuinen deutschsprachigen Märchens findet sich in der Sammlung Gartengesellschaft des Martin Montanus aus dem Jahr 1560. Eine gleichzeitig existierende, offenbar reiche mündliche Märchentradition bezeugen entsprechende Bemerkungen Martin Luthers, des Straßburger Dompredigers Gailer von Kaisersberg oder Rollenhagens (»wunderliche Hausmärlein […], welche ohne Schrift immer mündlich auf die Nachkommen geerbet werden«, 1591) .Märchensammlungen und -bearbeitungen finden sich in Europa etwa zu derselben Zeit: besonders durch Straparola (1550) und Basile (1634) in Italien, später vor allem durch Perrault (1697, Abb. 1) und viele andere in Frankreich. Im deutschen Sprachgebiet hatte Johann Gottfried Herder eindringlich zu Märchensammlungen aufgerufen. Erste nennenswerte Ergebnisse waren die Volksmärchen der Deutschen des Weimarer Pagenhofmeisters und Gym-nasialprofessors Musäus (1789) und in deren Gefolge Neue Volksmärchen der Deutschen (1793) der Leipziger Roman-schriftstellerin Benedikte Naubert.

Märchen (Diminutiv zu mittelhochdeutsch mære = „Kunde, Bericht, Nachricht“) sind Prosatexte, die von wundersamen Begebenheiten erzählen. Märchen sind eine bedeutsame und sehr alte Textgattung in der mündlichen Überlieferung (Oralität) und treten in allen Kulturkreisen auf. Im Gegensatz zum mündlich überlieferten und anonymen Volksmärchen steht die Form des Kunstmärchens, dessen Autor bekannt ist. Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff Märchen insbesondere durch die Sammlung der Brüder Grimm geprägt.

Im Unterschied zur Sage und Legende sind Märchen frei erfunden und ihre Handlung ist weder zeitlich noch örtlich festgelegt. Allerdings ist die Abgrenzung vor allem zwischen mythologischer Sage und Märchen unscharf, beide Gattungen sind eng verwandt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Märchen Dornröschen, das etwa von Friedrich Panzer als märchenhaft „entschärfte“ Fassung der Brünnhilden-Sage aus dem Umkreis der Nibelungensage betrachtet wird. Dabei kann man die Waberlohe als zur Rosenhecke verniedlicht und die Nornen als zu Feen verharmlost ansehen.

Charakteristisch für Märchen ist unter anderem das Erscheinen phantastischer Elemente in Form von sprechenden und wie Menschen handelnden Tieren, von Zaubereien mit Hilfe von Hexen oder Zauberern, von Riesen und Zwergen, Geistern und Fabeltieren (Einhorn, Drache usw.); gleichzeitig tragen viele Märchen sozialrealistische oder sozialutopische Züge und sagen viel über die gesellschaftlichen Bedingungen, z. B. über Herrschaft und Knechtschaft, Armut und Hunger oder auch Familienstrukturen zur Zeit ihrer Entstehung, Umformung oder schriftlichen Fixierung aus. Nach der schriftlichen Fixierung der Volksmärchen setzte eine mediale Diversifikation ein (Bilder, Illustrationen, Übersetzungen, Nacherzählungen, Parodien, Dramatisierungen, Verfilmungen, Vertonungen usw.), die nun an die Stelle der mündlichen Weitergabe trat. Insofern ist die „Rettung“ der Märchen etwa durch die Brüder Grimm zwar einerseits begrüßenswert, aber andererseits setzt dies auch der mündlichen Weitergabe eines mono-medialen Texttyps ein jähes Ende.

Märchenerzählen ist als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland anerkannt worden. Die Deutsche UNESCO-Kommission hat das Märchenerzählen im Dezember 2016 in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

Die schönsten Märchen der Brüder Grimm
Die schönsten Märchen →

Eine Geschichte werde ich dir erzählen, die ich hörte, als ich noch ein kleiner Knabe war. Jedesmal, wenn ich an die Geschichte dachte, kam es mir vor, als würde sie immer schöner; denn es geht mit Geschichten wie mit vielen Menschen, sie werden mit zunehmendem Alter schöner. Auf dem Lande warst du doch gewiß schon einmal; du wirst wohl auch so ein recht altes Bauernhaus mit Strohdach gesehen haben. Moos und Kräuter wachsen von selber auf dem Dach; …

Alphabetische Märchen-Liste: