Eine Brücke bauen, von der Wandmalerei über die mündliche Überlieferung zum Schriftlichen.
Lange, bevor es das geschriebene Wort gab, haben sich die Menschen Geschichten erzählt, wörtlich, in Liedern oder Märschen. Einerseits, um sich zu unterhalten und andererseits, um sich zu informieren und sie zu belehren und zu bilden; am Besten alles gleichzeitig.
Mündliche Überlieferung oder Oralität bezeichnet die erzählende Weitergabe von geschichtlichen, gesellschaftlichen und religiösen Informationen – insbesondere in Form von Geschichten, Sagen, Legenden und Traditionen. Sie spielt in allen Kulturkreisen eine große Rolle, hauptsächlich in jenen, die keine oder erst in Ansätzen eine schriftliche Überlieferung (Schriftlichkeit / Literalität) kennen.
Mündliche Tradition, oder mündliche Überlieferung ist eine Form menschlicher Kommunikation, bei der Wissen, Kunst, Ideen und kulturelles Material von einer Generation zur nächsten empfangen, bewahrt und mündlich weitergegeben werden.[ Die Übertragung erfolgt durch Sprache oder Gesang und kann Märchen, Balladen, Gesänge, Prosa oder Verse enthalten. Auf diese Weise ist es einer Gesellschaft möglich, Oral History, mündliche Literatur, mündliches Recht und anderes Wissen über Generationen hinweg ohne ein Schriftsystem oder parallel zu einem Schriftsystem zu übertragen. Religionen wie Buddhismus, Hinduismus, Katholizismus, und der Jainismus zum Beispiel haben eine mündliche Überlieferung parallel zu einem Schriftsystem verwendet, um ihre kanonischen Schriften, Rituale, Hymnen und Mythologien von einer Generation zur nächsten zu übermitteln.
Mündliche Überlieferung ist Information, Erinnerung und Wissen, die eine Gruppe von Menschen über viele Generationen hinweg gemeinsam hat. es ist nicht dasselbe wie Zeugnis oder mündliche Überlieferung. Im Allgemeinen bezieht sich „mündliche Überlieferung“ auf die Erinnerung und Weitergabe eines bestimmten, erhaltenen textuellen und kulturellen Wissens durch stimmliche Äußerung. Als akademische Disziplin bezieht sie sich sowohl auf eine Reihe von Studienobjekten als auch auf die Methode, mit der sie studiert werden.
Erinnern im Stadium totaler Schriftlosigkeit.
Der Satz: „Du weißt, was du im Gedächtnis trägst“ , ist ein Schlüsselsatz um die Methoden des Erinnerns und des Wissens in einer primären oralen Kultur zu beschreiben. Walter J. Ong unterscheidet hier klar die primären oralen Kulturen von der sekundären Oralität, die sich in der heutigen Zeit durch Radio, Fernsehen und Telefon entwickelt hat. Völker, die gänzlich ohne das geschriebene Wort auskommen und deren Erinnerungen und Gedächtnis aus rein oralen Strukturen bestehen, bilden Völker einer primären Oralität. Schriftliche Kulturen führen sich das organisierte Wissen fast ausschließlich aus Schriften herbei, während orale Völker eben nur das wissen, was sie im Gedächtnis tragen. Aber wie konservieren sie dieses Wissen?
Im Stadium totaler Schriftlosigkeit gibt es kaum Möglichkeiten den gleichen Gedankengang noch einmal zu produzieren oder eine komplizierte Erklärung im selben Wortlaut noch einmal entstehen zu lassen. Der Gesprächspartner ist deshalb bedeutungsvoll, um Wissen zu teilen und sich seinem Wissen auch bewusst zu machen.
Schon Sokrates hat in Platons Dialog Phaidros den Wertverlust der Kommunikation beklagt, der durch die Schriftlichkeit aufgekommen ist.
„Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleicht sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber fragst, um das Gesagte zu begreifen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht passt.“
Mnemotechniken.
Um sicherzustellen, dass mündliche Formen der Überlieferung die Zeiten überdauern, hat man verschiedene Methoden verwendet. Oft werden wichtige Erzählungen in Rituale eingebaut, die sich dann wegen ihrer nonverbalen Inhalte den Beteiligten besonders ins Gedächtnis einprägen. Ein bekanntes Beispiel ist die jährliche Verlesung der Weihnachtsgeschichte in vielen Familien und im Gottesdienst – und ihre Verstärkung durch das Nachspielen der Kinder – die sich auch in „Hirtenspielen“ oder in unzähligen Volksliedern dokumentiert. Um für Erinnerungen leicht memorierbare Bilder zu schaffen, wurden sogenannte Mnemotechniken verwendet, die das Erinnern erleichterten. Wiederholungen, Antithesen, Alliterationen, Assonanzen oder andere formelhaftige Ausdrücke, sowie Sprichwörter und Reime bildeten Hilfestellungen, um sich Wissen einzuverleiben und
wiedergeben zu können. Das menschliche Gedächtnis ist jedoch begrenzt, darum übten sich primär orale Völker auch in Homöostase. Die Realität bewahrt dabei ihr Gleichgewicht, indem sie für die Gegenwart nicht relevantes Wissen wieder ausscheidet.
Strukturelle Amnesie.
Die Wissenschaftler Goody und Watts beobachteten diese strukturelle Amnesie bei dem Volk der Gondsha in Ghana. Um die Jahrhundertwende von den Briten angefertigte Niederschriften beweisen, dass die mündliche Tradition der Gondsha damals dem Begründer des Gondsha-Staates, Ndewura Jakpa, sieben Söhne zubilligte, von denen ein jeder Herrscher über einen der sieben Distrikte des Landes war. Als die Mythen des Staates sechzig Jahre später erneut aufgezeichnet wurden, waren zwei der sieben Distrikte verschwunden, einer durch Eingliederung, der andere durch eine Grenzlinienveränderung. Diese späten Mythen berichteten lediglich von fünf Söhnen des Ndewura Jakpa, der Teil der Vergangenheit, der keinen unmittelbar erkennbaren Bezug zur Gegenwart hatte, war schlichtweg vergessen worden – weiterlesen Academic.
Siehe auch
Beispiele:
1. Aborigines und die Songlines ist eine verbreitete Sammelbezeichnung für die indigenen Völker Australiens. Ihre Vorfahren besiedelten vor etwa 40.000 bis 60.000 Jahren den Kontinent vom Norden ausgehend. Die Songlines bzw. Traumpfade (dreaming track) der Aborigines ergeben eine unsichtbare, mythische Landkarte Australiens, die per Gesang von Generation zu Generation weitergetragen wird und die Grundlage der Wanderungen (Walkabouts) der australischen Urbevölkerung sind. Manche Songlines verlaufen durch von den Aborigines verehrte Orte mit von ihnen angebrachten Felszeichnungen wie zum Beispiel im Wollemi-Nationalpark. Diese Landkarte wird von der Zivilisation durch Baumaßnahmen verändert, sodass die kulturellen Wurzeln der Urbevölkerung zerstört werden und verloren gehen. Literarisch und filmisch verarbeitet wurden die Songlines unter anderem im Roman Traumpfade (1987) von Bruce Chatwin (1940–1989), sodann unter der Regie von neun Regisseuren aus sechs Ländern in dem Film Songlines (1989), basierend auf der Musik von Alphaville, und auch in Urs Widmers Erzählung Liebesbrief für Mary (1993) sowie in dem Roman Traumreisende (1998) von Marlo Morgan.
2. Aşık (türkisch, Plural: aşıklar; aserbaidschanischaşıq, Plural: aşıqlari), auch Aschik und Aschug (nach arabischعاشقaschiq, DMGʿāšiq ‚Liebender‘), ist in der Türkei, in Aserbaidschan und in der iranischen Region Aserbaidschan etwa seit dem 16. Jahrhundert die Bezeichnung für einen Geschichtenerzähler und Volksliedsänger, der sich auf einer Langhalslaute(saz) begleitet. Die epische Tradition geht bis in vor islamische Zeit zurück, als bei den Turkvölkern in Zentralasienozan (türkisch, „Poet“) genannte fahrende Sänger ihre Lieder zur Laute komuz (kopuz) vortrugen. Die Texte der Volksdichtung ähneln sich im gesamten Gebiet und bestehen aus einem Silben zählenden Versmaß (hece vezni) mit acht- oder elfsilbigen Strophen. Die Melodien der traditionellen Sänger gehören meist zu einer freirhythmischen Gattung, die in der Türkei uzun hava genannt wird. Aşıklar singen auch Liebeslieder oder nehmen zu aktuellen sozialen Problemen Stellung. Weibliche aşıklar sind selten. Seit der staatlichen Förderung der volkstümlichen türkischen Musik ab den 1930er-Jahren werden die Lieder der aşıklar als die typische türkische Nationaldichtung herausgestellt und heute überwiegend metrisch gebunden (kırık hava) oder in einer Mischform dargeboten. Die musikalische Bandbreite der Lieder weist über die vereinfachend als einheitlich angenommene „türkische Volksmusik“ hinaus.
3. Bhagavad Gita (Sanskrit, f., भगवद्गीता, gītā – Lied, Gedicht, bhagavan – der Erhabene, Gott; „der Gesang des Erhabenen“), verkürzt auch nur Gita, ist eine der zentralen Schriften des Hinduismus. Sie hat die Form eines spirituellen Gedichts. Der vermutlich zwischen dem 5. und dem 2. Jahrhundert v. Chr. entstandene Text ist eine Zusammenführung mehrerer verschiedener Denkschulen des damaligen Indien auf Grundlage der älteren Veden (Frühvedische Schriften ca. 1200 v. Chr. bis 900 v. Chr.), der Upanishaden (Spätvedische Schriften ca. 700 v. Chr. bis 500 v. Chr.), des orthodoxen Brahmanismus (ca. 800 v. Chr. bis 500 v. Chr.), des Yoga u. a. m., steht aber den Upanishaden gedanklich am nächsten.
Die Bhagavad Gita ist ein Teil des Mahabharata (Sanskrit, महाभारत, Mahābhārata [mʌhaːˈbʱaːrʌtʌ] „die große Geschichte der Bharatas“ im Sinne des Epos vom Kampf der Bhāratas), der Schrift über die Familie Bharata (Sanskrit भारत bhārata [ˈbʱɑːɻət̪ə]) und deren Nachkommen (Schlacht zu Kurukshetra). Der Seher Saṃjaya schildert in dem Gesamtepos dem blinden König Dhritarashtra (Sanskrit धृतराष्ट्र, dhṛtarāṣṭra) den Kampf der beiden Bhāratafamilien den („guten“) Pandavas und den („bösen“) Kauravas um die Macht.
In der Bhagavad Gita bildet sich ein Zwiegespräch zwischen Krishna, einer irdischen Erscheinungsform von Vishnu, dem Lehrer, und Arjuna, dem Schüler, ab. Vishnu avancierte in der Zeit der Niederschrift des Werkes neben Shiva zu einem der Hauptgötter des Hinduismus. Krishna, der Protagonist der Bhagavad Gita, gilt als Avatara (Sanskrit अवतार avatāra, „Inkarnation, Herabkommen, Manifestation Gottes“), als Inkarnation des Gottes Vishnu auf Erden. In der Rahmenhandlung der Bhagavad Gita legt Krishna als Manifestation des Göttlichen dem jungen Krieger und Prinzen Arjuna auf dem Schlachtfeld die Grundgedanken über das Leben dar. Hierbei zeigt er ihm sein göttliches Wesen und unterweist ihn in Verhaltensregeln zum Erkennen des Göttlichen.
Hindus betrachten die Lehren der Bhagavad Gita traditionell als Quintessenz der Veden. Beim Studium ergeben sich oft scheinbare Widersprüche: Während einige Stellen anscheinend einen Dualismus lehren – die Zweiheit von Natur und Geist, von Gott und Mensch –, lehren andere die Einheit. Durch diese unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten ist das Gedicht Mittelpunkt für die verschiedensten Glaubensrichtungen. Die Bhagavad Gita wurde als religiös-philosophisches Lehrgedicht in 18 Kapiteln mit 700 Versen niedergeschrieben und um das 2. Jahrhundert n. Chr. in das Nationalepos Mahabarata eingebunden. Das typische Versmaß ist das Shloka–Versmaß, das rezitiert oder besser gesungen werden kann, daher Gita. Sie zählt zu den Smriti (Sanskrit, f., स्मृति, smṛti, „was erinnert wird“), das sind die Epen (Dichtung) Itihasa (Sanskrit: इतिहास itihāsa m.; wörtl.: „so (Iti) wahrlich (ha) ist es gewesen (āsa)“), zu denen neben der Mahabharata auch noch das Ramayana gerechnet wird.
4. Homer (altgriechisch Ὅμηρος Hómēros, Betonung im Deutschen: Homḗr) gilt traditionell als Autor der Ilias und der Odyssee und damit als frühester Dichter des Abendlandes. Weder sein Geburtsort noch das Datum seiner Geburt oder das seines Todes sind zweifelsfrei bekannt. Es ist nicht einmal sicher, dass es Homer überhaupt gab (siehe auch Homerische Frage). Kontrovers diskutiert wird die Frage, in welcher Epoche er gelebt haben soll. Herodot schätzte, dass Homer 400 Jahre vor ihm gelebt haben müsse; dies entspräche in etwa der Zeit um 850 v. Chr. Andere historische Quellen legen das Wirken Homers in die Zeit des Trojanischen Krieges, der traditionell etwa um 1200 v. Chr. datiert wird. Heutzutage stimmt die Forschung weitestgehend darin überein, dass Homer, wenn es ihn gab, etwa in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts und/oder in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. gelebt hat.
In der Antike wurden ihm weitere Werke wie die Homerischen Hymnen zugeschrieben, während andererseits immer wieder bezweifelt wird, ob Ilias und Odyssee überhaupt von einer einzigen historischen Person namens Homer verfasst worden sind. Unbestritten ist die unermessliche, bis heute andauernde Wirkung Homers, der schon in der Antike als der Dichter schlechthin galt.
5. Rhapsoden – ein Rhapsodie war ursprünglich ein von griechischen Wandersängern, den Rhapsoden, vorgetragenes Gedicht oder Teil einer Dichtung. Heute versteht man unter Rhapsodie ein Vokal- oder Instrumentalwerk, das an keine spezielle Form in der Musik gebunden ist. Die musikalischen Themen der Rhapsodie sind regelmäßig lose miteinander verbunden, sie können in flüchtigen, unzusammenhängenden musikalischen Gedanken gegeben sein, die nicht unbedingt aufeinander aufbauen oder Bezug nehmen. Insofern dient der Begriff des „Rhapsodischen“ mitunter als ein leicht abschätziges Werturteil, wo dieser auf den Mangel eines großen Formzusammenhangs in einem Satzganzen hinweisen soll.
Meist kommen die Themen und Motive aus der Volksmusik. Rhapsodien wurden u. a. von Johannes Brahms, Claude Debussy, Maurice Ravel (Rapsodie Espagnole), George Gershwin (Rhapsody in Blue), George Enescu (Rumänische Rhapsodien), Antonín Dvořák (Slawische Rhapsodie), Ralph Vaughan Williams (Norfolk Rhapsody), John Serry senior (American Rhapsody) und Franz Liszt (Ungarische Rhapsodien) veröffentlicht.
Die Rhapsodien Franz Liszts basieren auf sogenannten Zigeunerweisen, deren Hauptmerkmal die sogenannte Zigeuner-Moll-Tonleiter mit kleiner Terz, übermäßiger Quarte, kleiner Sexte und großer Septime ist. Gleichwohl hat Liszt in seinen Kompositionen den in den Salons seiner Zeit vorherrschenden Musikgeschmack berücksichtigt. Rachmaninow hat mit der 18. Variation – Rhapsodie über ein Thema von Paganini eine seinem Stil entsprechende Interpretation des Begriffs geliefert.
Die Rockband Queen greift in dem Stück Bohemian Rhapsody das rhapsodische Prinzip auf. Der Mediziner Johann Christian Reil verwendete das Wort Rhapsodie für seine berühmt gewordene Schrift Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Darin setzt er sich in zwanglos vortragender („rhapsodierender“) Form (vgl. Rhapsode) mit dem gesamten Gebiet der Psychiatrie auseinander.