Ein Mythos (seltener der Mythus, veraltend die Mythe, Plural Mythen, von altgriechisch μῦθος, „Laut, Wort, Rede, Erzählung, sagenhafte Geschichte, Mär“, lateinisch mythus) ist in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Erzählung. Im religiösen Mythos wird das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter oder Geister verknüpft.
Mythen erheben einen Anspruch auf Geltung für die von ihnen behauptete Wahrheit. Kritik an diesem Wahrheitsanspruch gibt es seit der griechischen Aufklärung bei den Vorsokratikern (z. B. Xenophanes, um 500 v. Chr.). Für die Sophisten steht der Mythos im Gegensatz zum Logos, welcher durch verstandesgemäße Beweise versucht, die Wahrheit seiner Behauptungen zu begründen.
In einem weiteren Sinn bezeichnet Mythos auch Personen, Dinge oder Ereignisse von hoher symbolischer Bedeutung oder auch einfach nur eine falsche Vorstellung oder Lüge. So wird etwa das Adjektiv „mythisch“ in der Umgangssprache häufig als Synonymbegriff für „märchenhaft-vage, fabulös oder legendär“ verwendet.
Eine bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchliche, heute seltene Verdeutschung ist „die Mythe“ als Singular.
Das Ensemble aller Mythen eines Volkes, einer Kultur, einer Religion wird als Mythologie (von griechisch μυθολογία „Sagendichtung“) bezeichnet. So spricht man z. B. von der Mythologie der Griechen, der Römer, der Germanen. Zu weiteren Bedeutungen dieses Begriffs siehe Hauptartikel Mythologie – weiterlesen bei Wikipedia.
Die Schöpfungsmythen der Menschheit
Wie entstand das Universum und das Leben auf der Erde? War am Anfang das Nichts oder das Chaos? Seit tausenden Jahren beschäftigen diese Fragen die Menschen. In ihren Schöpfungsmythen versuchten sie, Antworten zu finden. Eine kleine Auswahl aus aller Welt.
Sumerer
Zu den ältesten bekannten Schöpfungsmythen gehören jene der Sumerer, eines Volkes, das ab dem 3. Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien lebte. Als erstes Volk der Welt brachten die Sumerer eine Hochkultur und eine Schrift (Keilschrift) zustande. Laut der sumerischen Religion erschuf die Göttin Nammu, die das Urmeer darstellte, zuerst die Erdgöttin Uras und den Himmelsgott An. Aus ihnen gingen zahlreiche weitere Götter hervor. In dem etwa 1.800 v. Chr. entstandenen sumerischen Atrahasis-Epos wird berichtet, wie ein Ältestenrat der höchsten Himmelsgötter nach einer Rebellion der ihnen zur Fron verpflichteten niederen Götter, der Igigu, die Menschen schuf. Fortan sollten diese die Mühsal der Igigu tragen und allen Göttern – hohen wie niederen – zu Diensten sein.
Antikes Griechenland
Nach der „Theogonie“ (Entstehung der Götter) des im 7. Jahrhundert v. Chr. lebenden griechischen Dichters Hesiod nahm der Kosmos (Welt-Ordnung) seinen Anfang aus dem Chaos (Unordnung). Aus ihm entstanden fünf Urgottheiten, von denen eine Gaia – die gebärende Mutter Erde – war. Aus ihr entstanden Himmel, Berge und das Meer. Gaia ist aber auch die Ahnin aller Götter, die wiederum die Menschen nach ihrem Ebenbild schufen. Der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebende Philosoph Platon sah die Welt von einem göttlichen Handwerker – einem „Demiurgen“ – erschaffen. Der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebende Gelehrte Aristoteles ging von einem „unbewegten Erstbeweger“ als Anfangspunkt der Schöpfung aus.
Zoroastrismus
Als älteste monotheistische Religion (Glaube an einen allumfassenden Gott) entstand im 2. oder 1. Jahrtausend v. Chr. im Iran der Zoroastrismus. Im Zentrum des nach dem Religionsgründer Zarathustra (Lebensdaten unbekannt) benannten Glaubens steht der Schöpfergott Ahura Mazda. Dieser schuf zuerst den Himmel, die Erde und die Pflanzen und in einem zweiten Akt die Urtiere und den Urmenschen. Geprägt ist der Zoroastrismus vom immerwährenden Gegensatz zwischen dem für das Gute stehenden Ahura Mazda und seinem Widersacher Ahriman, der das Zerstörerische repräsentiert und später als Satan und Widersacher Gottes auch Eingang ins Judentum und damit auch in das Christentum fand.
Judentum und Christentum
Laut dem Buch Genesis des Alten Testaments, dessen Schriften sowohl für das Judentum wie für das Christentum heilig sind, erschuf ein allmächtiger einziger Gott aus dem Nichts an sechs Tagen den Himmel (Universum) mit Sonne und Mond, die Erde mit Land und Meeren, Pflanzen und Tieren, den Tag und die Nacht. Und er erschuf mit Adam und Eva den ersten Mann und die erste Frau – und zwar nach seinem Ebenbild. Mit dem Paradies gab er dem ersten Menschenpaar einen schönen Ort zum Leben, an dem es ihm an nichts fehlte. Nur die Früchte vom Baum der Erkenntnis sollten sie meiden. Doch in der Gestalt einer Schlange schlich sich der Satan ins Paradies und verführte die beiden. Sie naschten von den verbotenen Früchten und erzürnten Gott derart, dass er sie aus dem Paradies vertrieb. Fortan mussten die Menschen für ihr tägliches Leben hart arbeiten und kämpfen.
Hinduismus
Der Hinduismus sieht das Universum in immerwährenden Zyklen des Werdens und des Vergehens. In diesen Zyklen (Kalpa) gibt es weder einen Schöpfungsanfang noch eine endgültige Vernichtung. Das Prinzip der Schöpfung im Zyklus stellt der Hauptgott Brahma dar. Die beiden anderen Hauptgötter Vishnu und Shiva stehen jeweils für das bewahrende und zerstörerische Element. Ein Schöpfungszyklus umfasst nach hinduistischer Auffassung mehrere Trillion Menschenjahre. Danach versinkt der Schöpfergott Brahma zusammen mit all den von ihm erschaffenen Welten im höchsten kosmischen Geist, dem Brahman. Dieses unerschöpfliche, allwissende, allmächtige, allgegenwärtige Wesen ist die anfangslose und ewige Seele des Universums, die kein Davor und kein Danach kennt. Sie war immer da und wird immer da sein. Die Frage nach Anfang und Ende stellt sich nicht.
Buddhismus
Von den fünf existierenden Weltreligionen ist der Buddhismus die einzige, die keine konkrete Schöpfungsgeschichte kennt. Grundsätzlich gilt im Buddhismus die Vorstellung von einem wie auch immer gearteten Schöpfer als nebensächlich. Der Religionsstifter Buddha Siddhartha Gautama (563-483 v. Chr.) begründete dies unter anderem damit, dass ein Nachsinnen über die Schöpfung und die Herkunft des Lebens sinnlos sei, da diese Fragen nie vollständig beantwortet werden könnten. Zwar finden sich in den Schriften des Theravāda, der ältesten noch existierenden Schule des Buddhismus, Gottheiten wie Brahma oder Indra, die sich als ewige Schöpfer der Welt verstehen. Allerdings können sich diese Götter, mit denen Buddha sogar selbst in Kontakt getreten sein soll, wegen ihres hohen Alters nicht einmal an ihren eigenen Ursprung erinnern.
Germanen
Laut dem im Mittelalter verfassten nordgermanischen Edda-Lied Voluspa war am Anfang das Nichts, in dem es weder Erde noch „Aufhimmel“ gab. Dort lebte der Urzeitriese Ymir, aus dessen Achselschweiß ein Mann und eine Frau und aus dessen Füßen das Geschlecht der Riesen entstand. Ymir wurde nach einem anderen Lied von der aus schmelzendem Eis geborenen Urzeitkuh Auðhumla genährt, die gleichzeitig aus einem salzigen Stein Buri, den Stammvater der Götter, freileckte. Laut einer weiteren Edda-Dichtung sollen später die Götter, unter ihnen auch der Hauptgott Odin, aus Ymir die Welt erschaffen haben. Aus dem Blut des Urzeitriesen entstand das Meer, aus seinem Fleisch die Erde, aus seinen Knochen die Berge und aus seiner Haut der Himmel. Laut dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus (58-ca.120 n. Chr.) war einer der altgermanischen Götter Tuisto, der über seinen Sohn Mannus zum Stammvater der Germanen wurde, die sich – wie viele andere Völker auch – selbst als die einzig wahren Menschen (Mannus = Mensch) sahen.
China
Nach dem chinesischen Schöpfungsmythos entstand aus dem Urchaos des „Welteneis“ das kosmische Prinzip von Yin und Yang, aus dem später Himmel und Erde wurden. Auch Pangu, das erste Lebewesen, schlüpfte aus diesem ersten Ei. Als Weltachse stand Pangu im Mittelpunkt von Himmel und Erde. Nachdem er über 36.000 Jahre zu einem Riesen herangewachsen war, der von der Erde bis zum Himmel reichte, opferte er sich: Pangus Atem wurde der Wind, seine Stimme der Donner, das linke Auge die Sonne, das rechte der Mond. Aus seinem Leib entstanden vier Pole und fünf Hauptgebirge, aus seinem Blut speisten sich die Flüsse. Zähne und Knochen wurden zu Metall, das Haar ergab die Pflanzen und der Speichel den Regen. Seine Samen und sein Knochenmark wurden Perlen und Jade. Und aus dem Ungeziefer an Pangus Körper entstanden die Menschen.
Buschmänner
Die als Buschmänner oder San bekannten Gruppen von Jägern und Sammlern im Süden Afrikas verehren seit Urzeiten einen omnipräsenten, weisen und machtvollen höchsten Gott, der alles erschaffen hat. Nach ihrem Glauben waren in einer mythischen Urzeit alle Tiere und Naturerscheinungen Menschen. Das gilt auch für die Gestirne. Einem jener alten Mythen zufolge war die Sonne einst ein Buschmann. Dessen Achselhöhle war das Licht und wenn er den Arm hob, wurde es hell und warm auf der Erde. Nahm er ihn herunter, wurde es Nacht und kalt. Als der Buschmann alt und schwach wurde, überredeten ihn die Kinder, mit erhobenen Armen etwas zu fangen. Just in diesem Moment warfen sie ihn in den Himmel und beschworen ihn, auf ewig dort oben zu bleiben. Seither sorgt der alte Buschmann als Sonne dafür, dass die Erde warm und hell ist. Auch der Mond war einst ein Mann. Doch obwohl die Menschen auch ihn anbeteten, blieb er kalt.
Maori
In der Schöpfungsgeschichte der Maori Neuseelands sind der Himmel Rangi und die Mutter Erde Papa die Begründer der Welt. Das Paar, das einst in inniger Umarmung eng beisammen lag, hatte viele Söhne, die in der beengten Dunkelheit zwischen ihren Eltern heranwachsen mussten und diesen Zustand beenden wollten. Tumatauenga, der grimmigste der Götter-Söhne, wollte die Eltern töten. Aber sein Bruder Tane, der Gott der Wälder und Vögel, plädierte dafür, Himmel und Erde nur zu trennen, was ihm letztendlich unter Einsatz seiner Füße auch gelang. Doch sein Bruder Tawhirimatea, der Gott der Winde, war verärgert über die Tat und führte fortan Krieg gegen all seine Brüder. Einzig den grimmigen Tumatauenga oder kurz Tu – der für die Menschheit steht – konnte er nicht besiegen. Dieser rächte sich in der Folge an seinen feigen Brüdern, indem er Tanes Vögel und die Kinder seiner anderen Götter-Brüder wie die Fische und Erdfrüchte zu seiner Nahrung machte. Allein den Windgott Tawhirimatea bekam der grimmige Tu nicht zu fassen, weswegen Winde und Stürme die Menschheit bis heute plagen.
Pueblo-Indianer
Im Schöpfungsmythos der Pueblo-Indianer Arizonas und New Mexicos war Awonawilona („Der Eine, der alles erhält“) der Schöpfer der Welt. Er formte die Sonne und den Ozean. Und er schuf Mutter Erde und Vater Himmel, aus denen wiederum die ersten Lebewesen hervorgingen, verborgen in vier Höhlen tief unter der Erde. Die ersten Kinder von Mutter Erde waren Schlangen, Monsterwesen und zwei Riesen, die den Boden umwühlten. Sie bauten eine Strickleiter aus Bäumen und Reben, auf der auch die ersten Menschen aus dem Untergrund emporklettern konnten. Diese ackerten, säten und brachten die erste Ernte ein. Laut dem Mythos der zu den Pueblo-Indianern gehörenden Zuni führte der erste Mensch Poshaiyankya alle Geschöpfe ans Licht.
Inka
Die Inka, die vom 13. bis zum 16. Jahrhundert im südamerikanischen Anden-Raum ein riesiges Reich mit über 200 Völkerschaften beherrschten, nahmen für sich in Anspruch, die Söhne der Sonne zu sein. Doch neben dem Sonnengott verehrten sie auch den Schöpfergott Pachakamaq, was in der Quechua-Sprache „Schöpfer der Welt“ bedeutete. Dieser schuf seinem Mythos zufolge den ersten Mann und die erste Frau. Allerdings gab er seinen beiden Menschen-Geschöpfen kein Essen, weswegen der Mann schon bald starb. Der Frau, die den Schöpfergott ob seiner bösen Tat verfluchte, gab er immerhin die Fruchtbarkeit. Doch den erstgeborenen Sohn der Frau schlug Pachakamaq in Stücke, um daraus die verschiedenen Obst- und Gemüsepflanzen zu schaffen. Der zweite Sohn, Wichama, entkam, woraufhin der Schöpfergott dessen Mutter tötete. Wichama rächte sich für die Bluttat, indem er Pachakamaq ins Meer trieb. Wohl auch deshalb wurde Pachakamaq im Inka-Reich auch als Viracocha („Schaum des Meeres“) verehrt.
Islam
Im Islam gibt es keine klassische Schöpfungsgeschichte. Verschiedene Stellen im Koran weisen auf den schöpferischen Akt Gottes hin. Zum Beispiel in Sure 23 des Koran, den Versen 12-14. Hier wird beschrieben, wie der Mensch von einem nicht näher erläuterten „Wir“ von einer Substanz aus Lehm gebildet wird, die schrittweise weiterentwickelt zu Blut, Fleisch, Knochen und schließlich zu „einer anderen Schöpfung geschaffen“
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Geschichtsmythen und Nationenbildung
Mythen sind mehr als Erzählungen, denn sie stiften politische Bedeutung. Sie strukturieren die Vergangenheit und haben Einfluss auf die Gegenwart. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Mythen und Nationenbildung?
Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Nation ist etwas besonderes. Das hat auf dem Scheitelpunkt des Nationalbewusstseins in Europa dazu geführt, dass jede Verletzung der nationalen Grenzen als eine Verletzung des eigenen Körpers erfahren und jeder Angriff auf die nationale Ehre als Attacke gegen die persönliche Ehre wahrgenommen wurde. Auch wenn das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eher selten geworden ist: Man kann die Nation lieben. Dass man den Staat liebt, ist hingegen ungewöhnlich. Der Staat verlangt Opfer, und notfalls erzwingt er sie auch. Für die Nation dagegen werden die Opfer oft freiwillig gebracht. Dass das so war (und teilweise noch ist), hat nicht zuletzt mit den in die Idee der Nation verwobenen Mythen zu tun.
Staat und Nation sind zwei Typen politischer Ordnung, die unabhängig voneinander auftreten können, denen aber eine Tendenz zur Annäherung inhärent ist. Dann spricht man vom Nationalstaat. Dabei kann der Staat die initiierende Größe sein, ebenso aber auch die Nation. In Frankreich etwa ist der Staat, der sich als herrschaftlich-administrative, territorial klar umgrenzte Ordnung herausgebildet hatte, nachträglich nationalisiert worden; dabei kam der Revolution und den anschließenden Kriegen eine zentrale Rolle zu. In Deutschland dagegen, wo eine Fülle von Territorialstaaten entstanden war, die keinen nationalen Anspruch erheben konnten, drängte die Vorstellung der Nation darauf, dass ein an ihrer Reichweite orientierter Staat entstehen solle. Hier wartete die Nation also auf ihre „Verstaatlichung“. Dementsprechend unterschiedlich sind die Staats- und Nationsbildungsprozesse in beiden Ländern verlaufen. Bis heute bilden sie die beiden Modelle bzw. Entwicklungspfade, anhand deren Natiogenesen in aller Welt beschrieben und analysiert werden.
Politische Mythen
In beiden Fällen freilich haben Mythen eine entscheidende Rolle gespielt, und da beide Länder nicht nur um Grenzgebiete, sondern auch um die Hegemonie in Europa stritten, entstand daraus ein System von Gegenmythen, in dem die je eigene Erzählung die andere Seite ins Unrecht setzte oder aber deren Dignität bestritt. Das begann im späten 15. Jahrhundert mit dem Streit einiger Humanisten über die Frage, ob Karl der Große ein Deutscher oder ein Franzose gewesen sei. Dieser Streit ist inzwischen dadurch entschärft worden, dass Karl zum ersten Europäer ernannt und so zur gründungsmythischen Referenzgestalt des vereinigten Europa wurde. War die Debatte über Karl ein Streit unter Intellektuellen, so haben die politischen Mythen seit dem späten 18./frühen 19. Jahrhundert buchstäblich „die Massen ergriffen“.
Das begann mit dem Mythos der Französischen Revolution. Für die einen markierte die Revolution in Frankreich den Weg, den auch die Deutschen beschreiten mussten; bis vor kurzem gab es zahllose Stimmen, die das Unglück der deutschen Geschichte darauf zurückführten, dass es in Deutschland keine erfolgreiche Revolution gegeben habe. Das „Schmettern des gallischen Hahns“, von dem Marx spricht – eine Revolutionsmetapher –, sollte auch die Deutschen auf die Barrikaden rufen. Tatsächlich waren die Pariser Ereignisse der Jahre 1848 wie 1968 das Startsignal für europäische Vorgänge.
Die Gegenformel zu Marx´ gallischem Hahn ist Hegels „Eule der Minerva“, von der er sagt, sie beginne erst in der Dämmerung ihren Flug. Für Hegel ist es das Kennzeichen der Philosophie, dass sie aufs Erkennen aus ist und darum die Ereignisse inspiziert, nachdem sie stattgefunden haben. Das „Volk der Dichter und Denker“, wie man sich in Deutschland mit Blick auf die Weimarer Klassik und die idealistische Philosophie gern nannte, stellte dem Revolutionsmythos also den Kulturmythos entgegen. Das erklärt auch, weswegen die Formel von den Dichtern und Denkern keine Selbstfeier von Intellektuellen blieb, sondern zum nationalen Identitätsmerkmal wurde. In Frankreich entstand dagegen der Mythos des kritischen Intellektuellen, der die Dinge nicht im Nachhinein inspiziert, sondern politisch interveniert. Auf den von Voltaire bis Sartre reichenden französischen Intellektuellen-Mythos wiederum reagierte man in Deutschland beschämt oder zurückweisend: Die einen beklagten, dass es diesen Typus von Intellektuellen in Deutschland nicht gebe und suchten ihn selbst nachzuahmen; die anderen bezeichneten die Intellektuellen als „Mundwerksburschen“ (Gehlen) und hielten ihnen vor, andere die Arbeit tun zu lassen.
Ein anderes Paar im System der Gegenmythen waren Imperialität und antiimperialer Widerstand, die zwischen Deutschland und Frankreich mehrmals hin und her wechselten. Zwar hatten deutsche Humanisten seit dem späten 15. Jahrhundert den Cheruskerfürsten Arminius/Hermann als den ersten historisch identifizierbaren Deutschen herausgestellt und auf dem Höhepunkt der Reformation hatte man Luther und Hermann im Kampf gegen die Bevormundung durch Rom miteinander verbunden – aber so lange, wie sich die Deutschen als Träger des Heiligen Römischen Reiches begriffen, dominierte der Reichsmythos und nicht die Verkörperung des antiimperialen Widerstandes. Das änderte sich mit dem Ende des Reichs und der Kaiserkrönung Napoleons. Jetzt ließ sich der Hermannmythos politisch scharf machen, und der Kampf gegen die römischen Legionen fand im Widerstand gegen die französischen Divisionen seine Neuauflage. Außerdem konnte man so bequem die Zensur umgehen: Man sagte Rom und meinte Paris. Das änderte sich, als nach 1871 die Kaiserwürde wieder in Deutschland war: Zwar baute man jetzt das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, aber die mythische Überzeugungskraft der Antiimperialität lag nun bei den Franzosen, die den Caesar-Opponenten Vercingetorix entsprechend ausstaffierten. Asterix und Obelix wurden dessen spätere Nachfahren, wobei offen bleibt, von wem aktuell die imperiale Repression ausgeht.
Funktion von Mythen
Halten wir fest: Mythen sind nicht eo ipso unwahre Berichte, wie es ein landläufiges Begriffsverständnis nahelegt, sondern Erzählungen, denen es nicht um historische Wahrheit, sondern politische Bedeutsamkeit geht. Sie stiften Bedeutung – im Raum, indem sie Ereignisse mit bestimmten Orten verbinden, und in der Zeit, indem sie Geschichten erzählen, die der Geschichte Bedeutsamkeit verleihen und sie von der Vermutung des bloß Vergangenen befreien. Politische Mythen sind Interpunktionen der Zeit, sie markieren Zäsuren und stellen Ligaturen her. Sie strukturieren Vergangenheit im Hinblick auf das für uns heute noch Bedeutsame, das nicht dem Vergessen anheimfallen darf. Aber das tun sie nicht bloß der besseren Übersichtlichkeit zuliebe, sondern um Einfluss auf die in der Gegenwart lebenden Menschen auszuüben. Mythen verleihen Identität und stiften so Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, für das Individuum wie für sozio-politische Kollektive; aber sie nehmen diese auch in die Pflicht. Man hat sich der Heroen der Vergangenheit würdig zu erweisen.
Politische Mythen sind also keineswegs erbauliche Erzählungen, die wir zum Gegenstand historisch-philosophischer Studien machen können, wie das bei den Mythen der Antike der Fall ist. Solch wissenschaftliche Distanzwahrung ist nur bei bereits erkalteten Mythen möglich; „heiße“ Mythen dagegen haben eine direkte Appellstruktur, sie sprechen uns an und nehmen uns in Anspruch. Wir haben Mühe, uns ihnen zu entziehen, zumal dann, wenn sie tief in unsere politische Wahrnehmung eingesickert sind, so dass sie Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte (Koselleck) beherrschen. Man kann „heiße“ Mythen also auch daran identifizieren, dass sie die Grammatik der politischen Weltwahrnehmung strukturieren. Wir haben dies vor kurzem an den jugoslawischen Zerfallskriegen beobachten können.
Aber Mythos ist nicht gleich Mythos, auch und gerade nicht mit Blick auf den Prozess der Nationenbildung. Man kann zwischen Gründungs- und Opfermythen unterscheiden, wobei sich die beiden nicht prinzipiell ausschließen, aber unterschiedliche Funktionen haben. Opfermythen können durchaus zu Gründungsmythen werden, aber dann verlieren sie ihre appellative Dimension, fordern nicht mehr neue Opfer, sondern berichten von denen der Vergangenheit, denen wir so viel verdanken. Die Erzählung vom antifaschistischen Widerstand als Gründungsmythos der DDR ist dafür ein Beispiel; sie stand für politische Parteinahme und Identität und markierte eine Trennlinie zur Vergangenheit wie zur Bundesrepublik als einem nach wie vor faschismusanfälligen Staat, gegen den man sich durch den „Antifaschistischen Schutzwall“ sichern musste. Der antifaschistische Gründungsmythos verlangte keine neuen Opfer, aber „politische Wachsamkeit“ und hochgerüstete Abwehrbereitschaft. Man gedachte der Opfer, damit man keine neuen Opfer bringen musste. Dagegen ist der Nibelungenmythos, gleichgültig, ob er vom Helden Siegfried oder vom Todesritt der Nibelungen zu Etzels Burg handelt, eine Erzählung, die auf neue Opfer und neuen Kampf vorbereiten soll. Hier hat der Mythos eine sakrifizielle Dimension, und dementsprechend ist er auch eingesetzt worden.
Deutsche Gründungsmythen
Ein gänzlich opferfreier Gründungsmythos ist dagegen die Erzählung von Währungsreform und Wirtschaftswunder in der alten Bundesrepublik, die der Legitimation einer bestimmten Wirtschaftsordnung und der Abgrenzung gegen die DDR diente. Auch antifaschistischer Widerstand und Wirtschaftswunder bildeten eine gegenmythische Struktur, in der sich beide Seiten wechselseitig jene Legitimation bestritten, die sie sich selbst attestierten: Die DDR, indem sie die Bundesrepublik in die Kontinuität des Faschismus stellte, die Bundesrepublik, indem sie der DDR ihre Versorgungsdefizite und ihre wirtschaftlichen Mängel vorhielt. Beide Mythen sollten zunächst nicht zur Natiogenese dienen, sondern vielmehr konkurrierende Ansprüche auf den zu richtigen Weg zur deutschen Einheit markieren. Aber mit Vertiefung der Teilung wurden sie doch zu Elementen eigener Nationenbildung, gezielt im Osten, wider Willen im Westen. Erst der Zusammenbruch der DDR hat dem ein Ende gesetzt.
Die Wirkung von Geschichtsmythen entfaltet sich nicht bloß über Erzählungen, sondern dazu dienen auch Bilder und Feste. Zur narrativen Extension kommen ikonische Verdichtungen und rituelle Inszenierungen hinzu: Nur wenn alle drei Dimensionen zusammenwirken, können Geschichtsmythen ihre ganze Kraft entfalten. Die Denkmalsgründer haben das immer schon gewusst und versucht, den Mythen eine Gestalt zu verleihen. Der Mythos sollte sich nicht im Ungefähren verlieren, sondern brauchte einen Ort, an dem er in rhythmischer Wiederholung in Szene gesetzt werden konnte. So gewann er Präsenz in Raum und Zeit. An solchen denkmalbewehrten Orten lässt sich auch das Schicksal der Mythen beobachten – etwa dann, wenn nur noch Touristen zum Picknick kommen. Dann hat sich der Schauder des Sakralen verloren der „heißen“ Mythen eigen ist. Hier kann man sich aufhalten, ohne in die Pflicht genommen zu werden.