Krisen förderten zutage, was im normalen Leben verborgen bleibe, sagt der Schriftsteller Daniel Kehlmann. Schlechte Zeiten seien daher gute Zeiten für die Literatur.
NZZ: Herr Kehlmann, wir leben in Krisenzeiten. Auf die Epidemie folgte der Ukraine-Krieg, und mit diesem droht eine Wirtschaftskrise. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Wir leben gerne mit dem Grundvertrauen, dass die schlimmsten Dinge zwar von Mahnern an die Wand gemalt werden, aber dann doch nicht eintreten. Dieses Grundvertrauen ist mir wie vielen völlig abhandengekommen. Ein befreundeter Schriftsteller wollte von mir wissen, was denn nun als Nächstes passieren könnte. Ich habe nur halb im Spaß gesagt: eine Invasion von Außerirdischen. Das ist nun nicht sehr wahrscheinlich, aber mir ist so sehr das Vertrauen zerstört worden, dass ich selbst in diesem Fall nicht komplett überrascht wäre.
Man wusste, dass es eines Tages eine Pandemie geben könnte. Und man wusste, dass die Russen in die Ukraine einmarschieren könnten. Trotzdem war man überrascht und teilweise unvorbereitet. Woran liegt das?
Ich habe Freunde in Kiew, die sind zum Beispiel nicht rechtzeitig ausgereist, weil sie den Eindruck hatten, dass der schlimmste Fall nicht eintreten würde. Selbst da, wo zukünftige Ereignisse einen großen Einfluss auf gegenwärtige Entscheidungen haben, gibt es eine Handlungslähmung.
Sind Sie selber nun ängstlicher geworden? Oder waren Sie immer schon ein eher ängstlicher Mensch?
Was das Grosse und Ganze der Gesellschaft und des Systems betrifft, war ich nicht so ängstlich. Ich glaubte in gewisser Weise auch an Fukuyamas These vom Ende der Geschichte. Bis zu Trump und Brexit vertraute ich auf die Vorstellung, dass wir alle letztlich auf einem guten Weg sind und sich Probleme einvernehmlich lösen lassen. Gemessen daran bin ich viel furchtsamer geworden. Ich halte jetzt fast alles für möglich.
Treffen Sie also Vorkehrungen für den Ernstfall?
Denken Sie an das Atomkraftwerk Saporischja, das ständig beschossen wird: Auch da haben wir wieder so einen Fall, wo das Leben einfach weitergeht, weil man dann doch irgendwie darauf vertraut, dass nichts Schlimmes passieren wird. Im Grunde aber wäre es gerade für jemanden wie mich, der in Berlin lebt, das ja dann doch nicht so weit entfernt ist, gar nicht so irrational, mit der ganzen Familie nach Südamerika abzuhauen. Aber ich mach’s nicht.
Bringen erst Krisen die Gesellschaft und den Menschen zur Kenntlichkeit – auch mit bösen Überraschungen?
Das ist die älteste und erprobteste Methode der Literatur. Man wirft Figuren in die Krise, damit sich ihr wahrer Charakter offenbart. Es stimmt einfach, dass Krisen vieles zutage fördern, was im normalen Leben verdeckt und unsichtbar bleibt. Die Bereitschaft etwa unserer demokratischen Staaten, plötzlich mit enormer Kraft zuzugreifen und in Form von Zwangsmaßnahmen unsere Freiheit einzuschränken.
Sind Schriftsteller also Krisengewinnler?
Ja, eindeutig. Die schlechten Zeiten sind gute Zeiten für Schriftsteller. Immer unter der Voraussetzung natürlich, dass die Schriftsteller in Sicherheit sind und überleben und noch schreiben können.
Sind es reale Krisen, welche die Inspiration anregen, oder eher imaginierte Krisen auf dem Papier?
Ich glaube, beides. Corona ist eine Ausnahme, weil es eine Krise ist, die die Menschen voneinander getrennt hat. Das ist für die Literatur immer langweilig. Deswegen bezweifle ich auch, dass es gute Romane über Corona geben wird. Literatur lebt von menschlicher Interaktion, wenn aber alle zu Hause sitzen und Netflix streamen, dann bringt das für die Literatur nichts. Ich vertrete trotzdem in keiner Weise die zynische Ernst-Jünger-Position, dass Kriege toll seien für den Dichter. Nein, lieber keinen Krieg und eine weniger aufregende Literatur.
Was hat es mit diesem seltsamen Paradox auf sich, dass Kriege das Schlechteste aus den Menschen, aber das Beste aus der Kunst herausholen?
Zunächst einmal ist es die Gefahr, die jede Geschichte spannender macht. Und es hat damit zu tun, dass der menschliche Charakter sich deutlicher offenbart, wenn er sich in einfachen, archaischen Umständen bewegt und das noch unter gesteigerter Gefahr.
Steven Pinker vertritt die These, dass die Gewalt in der Welt zurückgehe. Wenn es so ist, dann droht Ihnen der Stoff auszugehen.
Sie haben mich in gewisser Weise ertappt. Es ist ja kein Zufall, dass ich zuletzt einen Roman geschrieben habe, der im Dreißigjährigen Krieg spielt. Und damit in einer Form der zugespitzten alltäglichen Gewalt, wie wir sie heute normalerweise nicht mehr erleben. Gerade im 17. Jahrhundert kam es zu extremen Folterungen und wurden Täter häufig öffentlich an den Pranger gestellt, um das staatliche Gewaltmonopol demonstrativ zu etablieren. Man wollte den Menschen zeigen, dass es sinnlos sei, sich gegenseitig umzubringen. Die Strafverfolgung sollte der Staat übernehmen. Das war trotz allem letztlich ein zivilisatorischer Fortschritt. Und wenn man sich klarmacht, wie stark damals die Welt von Gewalt durchdrungen war, dann sieht man, dass wir seither einen echten Fortschritt erzielt haben.
Kunst sei amoralisch, sagten Sie einmal, sie sei brutal und rücksichtslos. Worin genau?
Autoren schreiben häufig darüber, was um sie herum geschieht. Sie verwenden Lebensmaterial aus ihrer Umgebung mit einer gewissen Skrupellosigkeit, die nötig ist und verteidigt werden muss. Natürlich haben dann auch jene recht, die in der Folge den Kontakt mit einem Schriftsteller abbrechen oder ihm eine Ohrfeige geben.
Ist Ihnen das schon einmal passiert?
Nein, noch nie.
Sind Sie also zu wenig rücksichtslos?
Vielleicht bin ich zu wenig rücksichtslos – oder ich erfinde zu gerne. Aber es gibt den schönen Satz von Alexander Herzen: Die Schriftsteller sind nicht die Ärzte, sie sind der Schmerz. Literatur steht nicht zwangsläufig auf der Seite des Guten und erklärt uns, wie wir eine bessere Welt bauen. Literatur thematisiert, was in uns dunkel und erschreckend ist, alles Verdrängte in uns, das wir gar nicht kennen wollen.
Ist die Literatur also eine Art Stethoskop, und horchen Sie mit der Sprache ins Innerste des Menschen hinein?
Genau, und man zeigt, was immer man da findet. Es ist nicht die Aufgabe der Literatur, immer nur das Schöne und Gute zu predigen.
Zucken Sie nicht zusammen, wenn Sie «Aufgabe der Literatur» sagen?
So redet man natürlich nur in Interviews. Aber als ich «Tyll» geschrieben habe, wo sehr viele düstere Dinge geschehen, habe ich mir doch manchmal gesagt, dass ich alles zeigen und die Dämonen herbeirufen will. Das habe ich tatsächlich im Sinne einer Aufgabe gedacht. Ich schäme mich ein wenig, es zu sagen, es klingt dann doch großspurig.
Und wenn Sie heute Berichte über Butscha und andere Kriegsverbrechen in der Ukraine lesen, kommt Ihnen dann die Gegenwart ähnlich vor wie die in «Tyll» geschilderten Kriegsschauplätze?
Tatsächlich sieht man jetzt, dass sich die Menschen gerade in dieser Hinsicht am wenigsten ändern. Gewalttätige Menschen, die in Kriegen losgelassen werden, sind zu vielem fähig. Und da ist der Mensch dann auch nicht sehr einfallsreich. Es sind immer die gleichen Verbrechen. Manche Menschen werden einfach zu Monstern, wenn die Gesellschaft es ihnen erlaubt. Damals wie heute.
Dann ist «Tyll» doch auch ein Gegenwartsbuch?
Offenbar. Aber ich habe es nicht bewusst angestrebt. Vielleicht ist es gerade deswegen gegenwärtig, weil es in keiner Weise ein Kommentar zur Jetztzeit sein will. Ich habe die Welt von damals plastisch darzustellen versucht, und nun treten die Parallelen nur umso deutlicher hervor.
Schreibt noch eine andere Hand mit, wenn Daniel Kehlmann schreibt?
Leider nein, das fände ich großartig und ich würde mir viel Arbeit ersparen.
Vielleicht wissen Sie es ja gar nicht. Denn offensichtlich geschehen in Ihren Büchern Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben.
Das einzig Vergleichbare in dieser Art habe ich mit der Hauptfigur in «Tyll» erlebt. Tyll Ulenspiegel kam tatsächlich sozusagen fertig zu mir. Ich musste nie überlegen, was er sagt, wie er auf irgendetwas reagiert, und gleichzeitig hat er mich oft überrascht.
Glauben Sie an eine aufklärerische Funktion der Literatur oder der Kunst?
Ja, wenn Sie damit meinen, dass die Kunst uns zeigt, wie widersprüchlich wir selber sind und dass andere Menschen in ihrer eigenen Wirklichkeit und Weltsicht auch recht haben können. Auch wenn sie etwas vertreten, was wir für einen Irrtum halten. Besonders Romane können die Empathie fördern, das sagt übrigens auch Steven Pinker. Er bringt tatsächlich die Epoche des Romans in Zusammenhang mit der Abnahme von Gewalt in der Gesellschaft. Durch Romane, sagt er, lernten die Menschen, sich in andere hineinzudenken. Und das ist, wenn man so will, dann doch aufklärerisch, obwohl es nicht didaktisch ist.
Wir sprachen zu Beginn von Überraschungen. Manchmal werden wir von uns selber am meisten überrascht. Sie erzählten einmal die Geschichte, wie auf einem Flug nach Amsterdam der Pilot nach einem misslungenen Anflug durchstarten musste und die Passagiere nur halbwegs beruhigen konnte. Als einstiger Internatsschüler eines Jesuitenklosters haben Sie, obwohl keineswegs religiös, vor Schreck reflexartig ein Vaterunser gebetet.
Mir ist nicht ganz klar, welcher psychologische Mechanismus da gewirkt hat. Ist es ein Teil von mir, der doch religiöser geblieben ist, als mir selber bewusst ist? Andererseits: Man ist ja völlig hilflos in einer solchen Situation. Man macht dann vielleicht einfach irgendetwas, um überhaupt etwas zu tun. Dann würde es gar nichts bedeuten. Ich muss diesen Widerspruch nicht auflösen. Für mich als Schriftsteller ist es wichtiger, mir über einen Widerspruch in mir klarzuwerden und ihn in gewisser Weise auch zu genießen. Ich muss ja nicht widerspruchsfrei sein.
Sie meinen, Sie können nur dankbar sein für solche Erfahrungen?
Absolut.
Weil sie Ihnen Anekdoten liefern?
Das natürlich auch. Das ist ja letztlich der wichtigste Job des Schriftstellers: gute Geschichten zu erzählen – Quelle NZZ.
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Und….
„Sperre eine Ratte in einen Käfig und gib ihr 2 Flaschen Wasser. Das eine ist nur Wasser, das andere ist Wasser mit Heroin oder Kokain. Die Ratte wird fast immer das Wasser mit den Medikamenten bevorzugen und wird sich fast immer innerhalb weniger Wochen selbst töten. Das ist unsere Theorie der Sucht.
Bruce kam in den 1970er Jahren daher und sagte: „Sofort. Wir setzen eine Ratte in einen leeren Käfig. Es gibt nichts zu tun. Lass uns etwas anderes ausprobieren“. Also baute er den Rat Park – ein Paradies für Ratten. Im Rattenpark gibt es alles, was das Herz begehrt. Wunderbares Essen. Viel S@x. Andere Ratten, mit denen man sich anfreunden kann. Farbige Bälle. Außerdem beide Wasserflaschen, eine mit Wasser und die andere mit Drogenwasser.
Was man aber beobachtet hat, und das ist faszinierend: Im Rattenpark mögen die Ratten das Medikament Wasser nicht. Sie nutzen es kaum. Keiner von ihnen nimmt eine Überdosis. Keiner von ihnen konsumiert in einer Weise, die einem Zwang oder einer Sucht ähnelt. Was Bruce getan hat, zeigt, dass sowohl die rechten als auch die linken Theorien über Sucht falsch sind. Die rechte Theorie besagt, dass es ein moralisches Versagen ist, dass man ein Hedonist ist, dass man zu viel feiert. Die linke Theorie besagt, dass die Sucht die Kontrolle über Sie übernehmen wird, dass Ihr Gehirn gekapert wird.
Bruce sagt, es liegt nicht an deiner Moral, es liegt nicht an deinem Gehirn, es liegt an deinem Käfig. Sucht ist in hohem Maße eine Anpassung an die Umwelt.
Wir haben jetzt eine Gesellschaft geschaffen, in der eine beträchtliche Anzahl von uns es nicht ertragen kann, zu leben, ohne „auf irgendetwas“ zu sein: Alkohol, Drogen, Sex, Shopping…. Wir haben eine hyperkonsumierende, hyperindividualistische, isolierte Welt geschaffen, die für viele von uns eher dem ersten Käfig gleicht als den Verbindungen, die wir brauchen.
Das Gegenteil von Sucht ist nicht Nüchternheit, es ist Verbindung. Unsere ganze Gesellschaft ist darauf ausgerichtet, uns mit Dingen zu verbinden, nicht mit Menschen. Sie sind kein guter Verbraucher, wenn Sie Ihre Zeit damit verbringen, sich mit den Menschen um Sie herum zu verbinden, anstatt sich mit Dingen zu verbinden“.
– Johann Hari