Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern …


Königliches Besäufnis – Jacob Jordaens: «Das Fest des Bohnenkönigs», um 1640/45, Öl auf Leinwand – Kunsthistorisches Museum Wien

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Gift. Warum aber berauschen wir uns?

Es gibt ihn zu allen Zeiten und in allen Kulturen: den Rausch. Der Mensch hat ihn schon immer gesucht.

Der Seidenschwanz ist ein versierter Flieger – normalerweise. Manchmal aber frisst der hübsche Singvogel Beeren, die eigentlich schon hinüber sind. Durch Gärung ist Alkohol entstanden. Und Fliegen im angetrunkenen Zustand kann ziemlich gefährlich sein. Regelrechte Trinkgelage veranstalten Elefanten. Nach dem kollektiven Besäufnis liegen sie sturzbetrunken herum. Das geschieht, wenn sie über die Massen von den süßen, schnell überreifen Früchten des Marula-Baums naschen.

Ob sich Tiere absichtlich berauschen, weiß man nicht. Anders verhält es sich bei einem ganz besonderen Tier: dem Homo sapiens. Bezüglich Rausch ist er ein Experte. Die Menschheit kennt Rauschzustände seit ihren frühesten Anfängen. In allen großen Kulturen wurden Rauschmittel bei religiösen und gesellschaftlichen Ritualen eingesetzt. Das Trinken von Wein und Bier geht bis in prähistorische Zeiten zurück. Fast unbeschränkte Mengen davon hat die Landwirtschaft den sesshaft gewordenen Menschen beschert.

Die alten Griechen waren dem Wein zugeneigt, er galt als Grundnahrungs-, Heil- und Genussmittel und fand selbst als Opfergabe Verwendung. Im Mittelalter soll man Bier sogar Kindern verabreicht haben. Und was wir besser kennen unter dem Kürzel LSD, war damals die Tollkirsche und führte zum gleichen Zustand. Die Schamanen Zentralafrikas verwendeten das Pulver bestimmter Rinden, sogenannte Baummedizin, um sich in Trance zu versetzen. Hanf war im alten China und bei den Reitervölkern der ostasiatischen Steppen ein beliebtes Rauschmittel. Und von alters her kennen die Ureinwohner Südamerikas den Gebrauch einer Vielzahl von Pflanzen und Pilzen mit psychedelischer Wirkung.

Verwirrung und Vergiftung.

Welche Drogen akzeptiert sind, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur. Soziale Regeln bestimmen den Konsum: Tabak ist weit verbreitet, das Rauchen von Cannabis vielerorts nur knapp toleriert, wer harten Stoff wie Heroin konsumiert, macht sich strafbar. In der westlichen Welt ist Alkohol Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und traditionell gut verankert. Im Islam wird er mit einem Verbot belegt. Innerhalb derselben Kultur ist der Umgang mit verschiedensten Rauschmitteln sehr unterschiedlich. Ein Glas Wein gehört zum guten Ton. Amerikanische Filmhelden leben uns vor, sich bei jeder Gelegenheit einen Drink zu genehmigen. Dagegen geschieht das Einwerfen einer Partypille, das Hochziehen einer Linie auf dem stillen Örtchen. Wer sich in aller Öffentlichkeit einen Schuss setzt, gilt als hoffnungsloser Fall. Wir schauen auf Konsumenten mancher Drogen herunter, dabei kommt keiner von uns ohne aus.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Gift. So etwa lässt sich dieses Konsumverhalten in Abwandlung eines Bibelspruchs auf den Punkt bringen. Ohne ein Mindestmaß an Betäubung scheinen viele nur schlecht leben zu können. Tatsächlich setzt schon allein unser Körper selber allerlei Drogen frei. Etwa beim Sport: Jogger wissen um den rauschhaften Zustand, in den intensives Laufen versetzen kann. Oder beim Autofahren: Raser suchen den Geschwindigkeitsrausch. Und beim Sex? Da bringt man sich bisweilen in Ekstase. Nichts ist Gift, alles ist Gift, nur die Dosis macht das Gift. Bereits Paracelsus erkannte, dass die Neigung zu berauschenden Substanzen gesundheitsgefährdende Folgen haben oder gar in die Abhängigkeit führen kann. Drogensucht bringt Menschen immer wieder Verderben und Tod. Wir pflegen deshalb ein ambivalentes Verhältnis zum Rausch. Und dieser hat die Eigenschaft, unter dem Radar nüchterner Betrachtung zu bleiben. Das liegt in seiner Natur. Blickt man rein rational auf das Phänomen, gilt es medizinisch gesehen als Vergiftung, psychologisch als Verwirrung.

Wie aber steht es mit der kollektiven Euphorie während eines Fußballspiels? Oder mit der trancehaften Ausgelassenheit an einem Rockkonzert? Man würde diese Zustände kaum als toxische Störung werten. Solche Betörung ist schließlich auch der Lohn der Arbeit. Die Menschen feiern Feste und berauschen sich an Musik und Tanz, an Theater, Spielen und Künsten. Diese Quellen von Glück erscheinen bisweilen geradezu als Selbstzweck. Dass der Mensch nach Rauschzuständen Ausschau hält, hat Gründe. Und diese sind im Gehirn zu finden, wie zurzeit eine informative Ausstellung im Bernischen Historischen Museum aufzeigt.

Drogenlabor Gehirn.

Das Gehirn ist die Steuerzentrale unseres Körpers. Es hat die Aufgabe, unser Überleben zu garantieren. Sogar den Fortbestand der gesamten Spezies stellt es sicher – indem es dafür sorgt, dass wir Nachwuchs zeugen. Das Zauberwort heisst Belohnungssystem: Alles, was wir tun, um am Leben zu bleiben und uns fortzupflanzen, belohnt unser Hirn mit der Ausschüttung von Botenstoffen. Diese haben viele Namen: Sie heißen Dopamin, Serotonin, Noradrenalin oder Endorphine. Und sie machen, dass wir uns so richtig gut fühlen. So will unser Gehirn, dass wir uns verlieben. In diesem Ausnahmezustand berauscht uns das Belohnungssystem mit Glückshormonen – der süßen Droge namens Euphorie: Wir könnten jetzt Bäume ausreißen und brauchen kaum Schlaf. Der Hormoncocktail, insbesondere unter Zugabe des Kuschelhormons Oxytocin, macht, dass wir uns binden. Zu zweit fühlen wir uns dann oft allmächtig. Bisweilen aber gleicht blinde Verliebtheit auch einer Art Verwirrung. Gar als endogene Vergiftung mag sie uns dann vorkommen, wenn auch noch Liebeskummer im Spiel ist.

Niemand würde aber behaupten wollen, dass all die Liebesromane der Weltliteratur bloße Delirien geistig umnachteter Autoren sind. Sie haben einen höheren Sinn. Sie lassen einen an Grenzerfahrungen teilhaben, die über die prosaische Lebenswelt des rein Notwendigen hinausheben. Auf dem Boden nüchterner Realität allerdings mögen die Baupläne des menschlichen Gehirns nicht immer plausibel erscheinen. Das Benehmen Liebestrunkener kommt oft dem Wahnsinn gleich. Wer würde bei klarem Verstand die selbstmörderischen Gefühle eines Romeo als erstrebenswert erachten? Das liegt aber nicht etwa an einem Konstruktionsfehler des menschlichen Gefühlshaushalts. Dessen Steuerungssystem folgt einem uralten Programm, das sich einst bestens bewährt hat. Das Gehirn ist auf die Bedürfnisse unserer Urahnen ausgerichtet. Die Schaltzentrale des Menschen ist ein Modell aus der Steinzeit.

Das lässt sich an verschiedenen Verhaltensmustern beobachten. So etwa beim Essverhalten. Wenn Zucker im Spiel ist, kennt die Gier oft kein Halten. Zucker war rar zur Zeit unserer Vorfahren und Nahrungsbeschaffung generell ein aufwendiges Unterfangen. Gab es endlich etwas zu futtern, schlug man sich die Bäuche voll. Denn die nächste Gelegenheit dazu lag im Ungewissen. Jäger und Sammler hatten kaum Überlebenschancen außerhalb der Gruppe. Weswegen wir auch heute alles Mögliche tun, um dazuzugehören. Wer sich sozial verhält, wird vom Hirn belohnt. Nicht anders ist es mit der Neugier. Wer wagt, gewinnt, heisst es. Risikobereitschaft hat die Menschheit weitergebracht. Und so wird der Abenteurer bei seinen Taten und Errungenschaften angetrieben von Glücksgefühlen wie Machbarkeitswahn und Machtrausch. Das zeigt sich etwa bei den Extremsportarten: Sie bieten den berühmten Kick, einen Adrenalinstoß, nach dem manch einer süchtig ist.

Das süchtige Tier.

Der Cocktail aus beglückenden Botenstoffen ist so berauschend, dass Menschen auch dann noch auf belohnende Erlebnisse aus sind, wenn es weder ums Überleben noch um Fortpflanzung geht. Man gönnt sich eine Zigarettenpause oder den Schokoladenriegel für zwischendurch. Man belohnt sich mit einem Zucker- oder Nikotin-Flash – kurz: Wir konsumieren Substanzen, die das Belohnungssystem in unserem Hirn aktivieren. Mit einem Feierabendbier kommt man so schön herunter. Und manchmal kommt man vom Herunterkommen nicht mehr herunter. Das Hirn sagt: Mehr davon! Aber leider oft nicht: Stopp, jetzt reicht’s! Eigentlich spüren wir zwar, wann es genug ist. Das Sättigungsgefühl ringt dann gegen das Belohnungssystem: die Lust gegen den Verstand – und obsiegt nicht selten.

Der Rausch hat eine unbändige Verführungskraft. Das kommt dem reibungslosen Funktionieren in einer modernen Leistungsgesellschaft oft in die Quere. Daher steht der Rausch nicht im besten Ruf. Der Produktivität ist er abträglich, und er wird oft als Störfaktor ins Private verbannt. Akzeptiert wird er allenfalls als Zugeständnis – oder eben: als Belohnung. Allein, aus Sicht der Evolution betrachtet, ist das berauschte Tier, das wir sind, ein Erfolgsmodell. Das Bernische Historische Museum widmet sich im Jahr 2023 dem Thema Rausch und geht in einer Ausstellung unter dem Titel «Rausch – Ekstase – Rush» der Frage nach, warum wir uns berauschen. Die Wanderausstellung von Expoforum entstand in Zusammenarbeit mit dem Tabakpräventionsfonds, dem Bundesamt für Gesundheit sowie dreissig Fachpersonen unter Einbezug von Jugendlichen.


Alkoholsünder auf immer und ewig:
Wie falsche Laborwerte das Leben von Rinaldo Andenmatten auf den Kopf stellen.

Nach einem Führerausweisentzug wird Rinaldo Andenmatten vollkommen abstinent. Dennoch hält ihn die Justiz während Jahren für einen schweren Trinker. Er geht der Sache nach – und macht eine unglaubliche Entdeckung.

«Sogar die Betonproben auf dem Bau sind genauer», sagt Rinaldo Andenmatten und schüttelt den Kopf über die Messmethoden der Verkehrsmedizin. Karin Hofer / NZZ

Am 25. April 2016 gerät Rinaldo Andenmatten in Saas-Grund in eine Polizeikontrolle. Zwei Atemlufttests ergeben einen Blutalkoholwert von 1,3 und 1,4 Promille. Der Bluttest eine Stunde später zeigt 1,8 Promille an. Andenmatten denkt sich: Jetzt ist der Führerausweis für ein paar Monate weg. Doch diese Geschichte wird ihn noch jahrelang verfolgen. Am Ende werden es fast fünf Jahre Abstinenz sein, zu denen er von den Behörden verpflichtet wird. An diesem Abend hat Andenmatten zu viel getrunken. Eine Flasche Rotwein hat er allein geleert. Er hat Ärger gehabt in seinem Ingenieurbüro in Visp. Andere würden vielleicht ohne Weiteres zur angeordneten verkehrsmedizinischen Untersuchung gehen. Aber Andenmatten ist vorsichtig. Er hat Gerüchte gehört über unglaubwürdige Testresultate. So geht er vor dem offiziellen Termin zum eigenen Hausarzt und lässt Haarproben nehmen.

Von den Haaren hängt alles ab.

Das menschliche Haar ist wie ein Fahrtenschreiber. Bestandteile von Alkohol lagern sich darin ab. So gibt eine chemische Analyse von Kopfhaaren Auskunft über den Alkoholkonsum der Vergangenheit. In der Schweiz wird standardmäßig der Ethylglucuronid-Wert (EtG) erhoben, der sich auf die letzten sechs Monate bezieht. Beim Treffen im Dezember 2022 kommt Rinaldo Andenmatten gerade vom Flughafen. Er war auf einer Velo-Reise in Oman. Ein braungebrannter, sportlicher Rentner. Verbittert wirkt er nicht, aber wenn er seine Geschichte erzählt, kommt er in Fahrt. Einen «Match» nennt er sein Ringen mit den Behörden.

Im Oktober 2016 schickt sein Hausarzt seine Haarsträhne in ein zertifiziertes deutsches Labor. Die Probe ergibt den EtG-Wert 20,3. Das entspricht einem moderaten Alkoholkonsum. So geht der Walliser am 21. November 2016 ziemlich entspannt zur verkehrsmedizinischen Eignungsprüfung nach Siders. Er hat einen Gesprächstermin bei der Verkehrsmedizinerin am zuständigen Kantonsspital Wallis und muss dort Haare abgeben. Beides verläuft seltsam. Nach der Entnahme der Haarprobe fällt Andenmatten auf, dass eine braune Haarsträhne, die nicht von seinem Kopf stammt, offen auf dem Tisch liegt. Misstrauisch geworden, liest er später die Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin durch. Dort steht, dass die Testperson handschriftlich bestätigen soll, daß die ordnungsgemäß verpackten und beschrifteten Haare von ihr stammen. Andenmatten wurde nie nach seiner Unterschrift gefragt.

Der offizielle Haartest ergibt einen fünfmal höheren EtG-Wert von 100. «Unmöglich» sei das, sagt Andenmatten. Und damit beginnt sein Kampf. Er will nun alles unternehmen, um dieses erste Testresultat, das sein Leben auf den Kopf gestellt hat, zu widerlegen. Er argwöhnt, dass am 21. November 2016 in Siders statt seiner eigenen die fremde braune Haarsträhne ins Labor geschickt worden ist.

Gemäss der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin gelten folgende Grenzwerte:
  • 0–7 pg/mg EtG: Abstinenz
  • >7 pg/mg EtG: relevanter, moderater Alkoholkonsum
  • ≥ 30 pg/mg EtG: übermäßiger Alkoholkonsum

Die unverfängliche Haarprobe von Andenmattens Hausarzt hilft nichts. Die Ärztin interessiert sich nur für den Wert des offiziellen Tests. In ihrem Gutachten stellt sie Andenmatten als Alkoholiker dar, der all seine sozialen Kontakte verloren habe. Wie sie darauf kommt, ist schleierhaft. Sie hat Andenmatten gar nicht nach seinem Sozialleben gefragt. Über seine Tätigkeit für den Skisport, seinen früheren Beruf und diverse ehrenamtliche Engagements hat er viele Kontakte. Und als ehemaliger Gemeinderat von Saas-Fee ist er an seinem Wohnort und kantonsweit gut vernetzt.

Die Folge des ärztlichen Gutachtens ist ein Führerausweisentzug auf unbestimmte Zeit wegen diagnostizierter Alkoholabhängigkeit. Frühestens nach zwölf Monaten kompletter Abstinenz samt psychotherapeutischer Begleitung wird ein Arzt ihn wieder für fahrtauglich erklären können.

Der Auftrag der Politik.

Im Jahr 2012 hat die Schweiz entschieden, ihre Straßen sicherer zu machen. Mit dem Programm «Via Sicura» sollen fehlbare Autolenker von der Straße geholt werden. Bezüglich Alkohol am Steuer heisst das: Man gibt den Führerausweis nicht bloß nach wiederholtem Fahren in angetrunkenem Zustand ab. Auf der Homepage der Beratungsstelle für Unfallverhütung des Bundes steht: «Auch wenn jemand so viel trinkt, dass seine Fahrfähigkeit verringert ist oder dass er die Neigung zum übermäßigen Alkoholkonsum durch den eigenen Willen nicht kontrollieren kann, wird er eingezogen.» «Neigung» und «Willen» zu beurteilen, ist Sache von Verkehrsmedizinern und Behörden.

Bis zum Jahr 2030 soll die Zahl der Verkehrstoten gemäss «Via Sicura» auf unter 100 pro Jahr gedrückt werden. 2020 gab es über 200 tödliche Unfälle. Kein Wunder, entzieht man im Zweifel lieber einen Führerausweis zu viel als einen zu wenig.

Seit Jahren trocken.

Seit dem 1. April 2018 lebt Rinaldo Andenmatten laut eigenen Angaben vollkommen abstinent und fährt intensiv Velo, mehrere tausend Kilometer pro Jahr. Seine Haare hat er regelmäßig auf Alkohol analysieren lassen. Die Proben wurden jeweils vom Hausarzt entnommen und in zertifizierten Laboren in der Schweiz oder in Deutschland getestet. Zwischendurch musste er auch offizielle Proben machen lassen im Rahmen der verfügten Auflagen. Jedes Testresultat bezieht sich auf den Alkoholkonsum der vergangenen sechs Monate. Die Befunde sind ausgesprochen widersprüchlich für eine Methode, die ausschlaggebend ist für den Entscheid über die Fahrtüchtigkeit einer Person.

Rinaldo Andenmatten verfolgt jetzt eine Mission. Er will beweisen, dass diese Haarproben-Methode unzuverlässig ist. Dazu hat er weitere Tests machen lassen und die Resultate säuberlich aufgelistet. Teilweise erzielen Haarproben vom gleichen Tag unterschiedliche Werte in verschiedenen Laboratorien. Vor allem, der sehr hohe Wert von 100 EtG vom Juni 2019 des Instituts für Rechtsmedizin Basel macht stutzig, wenn man sieht, dass am selben Tag ein Labor in Deutschland bloss 9,7 EtG gemessen hat. Dieses Testresultat aus dem zertifizierten deutschen Labor, das auch Haarproben für die Schweizer Verkehrsmedizin analysiert, liegt der NZZ vor.

Die verschwundene B-Probe.

Obwohl bei Haarproben standardmäßig sogenannte B-Proben entnommen werden für eine spätere Überprüfung des Resultats, gelingt es Andenmatten nie, die Herausgabe der B-Probe seines ersten fatalen Haartests von 2016 zu erzwingen. Irgendwann schreibt das Labor in Lausanne, die Probe sei vernichtet worden. In den meisten Laborresultaten spiegelt sich Andenmattens Alkoholabstinenz seit dem April 2018. Die behördlich angeordnete Untersuchung im April 2019 durch das Institut für Rechtsmedizin Zürich zeigt einen moderaten Alkoholkonsum. Nur die Befunde des Rechtsmedizinischen Instituts Basel tanzen aus der Reihe: Die Basler Werte sind zwölfmal so hoch (90 bzw. 100 EtG).

Eine Überprüfung und ein Verdacht.

Andenmatten verlangt, dass die B-Probe des zweiten Basler Tests untersucht wird, und diesmal geschieht dies auch. Die Basler schicken seine Haare ans Rechtsmedizinische Institut Zürich. Dort machen die Toxikologen etwas, was aus wissenschaftlicher Sicht keinen Sinn ergibt: Sie schneiden die B-Probe der Haarsträhne in zwei Stücke und analysieren sie separat. Dabei kommen zwei Werte für unterschiedliche Zeiträume heraus. Das Labor eruiert den EtG-Wert 74 für die Periode von Januar bis Mitte April 2019 und den Wert 140 für Mitte April bis Mitte Juni 2019. Gemittelt über die gesamte Zeit kommt Zürich so auf 100 EtG, exakt den gleichen Wert, den Basel gemessen hat.

Allerdings wirft dieses Resultat neue Fragen auf. Denn das Rechtsmedizinische Institut in Zürich hat Andenmatten in einem früheren Haartest für den Zeitraum Oktober 2018 bis März 2019 den viel tieferen Wert 7,6 bescheinigt. Für die fast gleiche Periode soll nun also plötzlich der zehnfache Wert korrekt sein? Der ETH-Ingenieur fühlt sich für dumm verkauft: Da sind ja die Betonproben auf dem Bau noch genauer!, denkt er sich und rechnet nach. Er kommt zur Überzeugung: «Entweder sind diese Tests unseriös, oder ein Labor hat ein Gefälligkeitsgutachten erstellt.»

Andenmatten wendet sich an eine der führenden Toxikologinnen der Schweiz. Er will wissen, wie so widersprüchliche Resultate erklärbar sind. Maria Teresa Pinorini ist Mitglied der Arbeitsgruppe Haaranalytik der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin. Sie hat den Leitfaden zur Bestimmung von Drogen und Medikamenten in Haarproben mitverfasst. Pinorini schreibt Andenmatten, es gebe «keine wissenschaftliche Erklärung für die divergierenden Testresultate».

Bundesgericht anerkennt «Diskrepanzen».

Der Walliser hat mittlerweile alle möglichen Rechtsmittel eingesetzt und Zehntausende Franken ausgegeben. Der Gang durch verschiedene Gerichtsinstanzen hat ihn nicht weitergebracht. Das Bundesgericht räumt zwar ein, dass zwischen den Resultaten der Analysen Diskrepanzen bestehen. Dennoch sieht es keinen Grund, die Verfügung des Kantons Wallis aufzuheben. Die in Zürich und Basel gemessenen Werte für das Frühjahr 2019 seien zu hoch für die geforderte Abstinenz und es gebe keine Anhaltspunkte, dass diese Werte in einem unsauberen Verfahren erhoben worden seien, schreibt es in seinem Urteil. Mit den Laborwerten aus Deutschland gibt sich das Gericht nicht ab. Auch das positive psychiatrische Gutachten spielt keine Rolle.

«Für mich gibt es keinen Rechtsstaat Schweiz mehr», sagt Andenmatten. Im jahrelangen Kampf gegen seine Abstempelung als chronischer Alkoholiker hat er den Glauben daran verloren.

Andere Länder haben Konsequenzen gezogen aus den unerklärbaren Abweichungen bei Laborresultaten. Britische Labore messen neben dem Ethylglucuronid auch den Fettsäureethylester, einen anderen chemischen Marker für Alkoholkonsum. In England wird auch empfohlen, die Haaruntersuchungen mit Bluttests zu ergänzen, um die Fehlerquote zu reduzieren. Die Schweiz hingegen stellt einzig auf den Ethylglucuronid-Wert ab. Bei seinen Recherchen stellt Andenmatten fest, dass man Alkohol nicht unbedingt trinken muss, damit der EtG-Wert ansteigt. Er stößt auf eine Studie, in der 4 von 5 Screenings nach Händedesinfektionen mit Ethanol zu positiven EtG-Werten führten. Die Studienautoren warnen auch vor falsch positiven Diagnosen durch bestimmte Alkohole, die in Kosmetika, in der chemischen Industrie und sogar in Nahrungsmitteln verbreitet seien. Bekannt sei zudem, dass beispielsweise Diabetiker Ethylglucuronid im eigenen Körper produzierten, schreiben sie.

«Ich hätte ins Hallenbad gehen sollen».

Er stößt auch auf eine Studie, die belegt, dass man den Ethylglucuronid-Wert im Haar um 12 bis 20 Prozent senken kann, wenn man es für zwei Stunden ins Chlorwasser eines Schwimmbads taucht. «Ich hätte mich im Herbst 2016 einfach einen Tag lang ins Hallenbad legen sollen», witzelt Andenmatten. «Dann hätte ich mir den ganzen Ärger erspart!» Im November 2020 hebt der Kanton Wallis den Führerausweisentzug auf, aber Andenmatten bleibt weiterhin unter Alkoholiker-Verdacht. Er muss mindestens drei Jahre lang völlig trocken bleiben und die Alkoholabstinenz durch sechs Haaranalysen belegen. Auch die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung wird fortgesetzt.

Als er nicht mehr daran glaubt, passiert das Unerwartete: «Plötzlich haben sie mich vom Haken gelassen.» Das Zürcher Institut für Rechtsmedizin schreibt am 19. Oktober 2022 an das Straßenverkehrsamt des Kantons Wallis: «Die frühzeitige Entlassung zum jetzigen Zeitpunkt wird im Rahmen der Gesamtsituation bei sehr gutem Verlauf befürwortet.» Der Kanton Wallis folgt der Empfehlung. Rinaldo Andenmatten atmet durch. Diesmal rätselt er über eine glückliche Wendung. Vom «Match» hat er noch nicht genug. Jetzt will er auf politischem Weg dafür kämpfen, dass Leidensgenossen nicht mehr mit falschen Testergebnissen und abenteuerlichen Arztberichten drangsaliert werden.

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