Wo fängt die Lüge an und ab wann wird diese zur Dummheit?
Oder gibt es gar einen „Sog der Lüge“ und zwei Dinge, die unendlich sind!?
„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher“ – Fritz Perls.
Jetzt mal ehrlich!
Wir wären gern ehrlicher gewesen in diesem Text, nur: So leicht ist das nicht. Wir werden Sie manchmal abspeisen müssen mit Andeutungen, wir werden viel auslassen von dem, was wir wissen. Es ist im Journalismus durchaus möglich, vollständig ehrlich zu sein, also alles aufzuschreiben, was man weiß. Nur ist es eben auch rücksichtslos. Denn wer über die Lüge spricht, macht sich angreifbar. Und diejenigen, die es trotzdem wagen, tun das nur im Vertrauen. Ohne Namen, ohne Parteizugehörigkeit.
Beim Telefonat eine Woche zuvor fragte derselbe Minister, warum man überhaupt über die Lüge reden müsse. Sie sei doch ohnehin überall. Aber genau das sei doch interessant, sagten wir (eigentlich vor allem ein Versuch, den Termin zu retten und seine Sympathie zu gewinnen): Was das mit einem mache. Und er sagte, als wäre das selbstverständlich: „Du hast irgendwann die Schnauze voll und gehst.“
Wenn es so etwas wie Wahrheiten über die Lüge geben kann, dann stehen im Folgenden einige Wahrheiten über die Lüge in der Politik – wobei Wahrheit heißt: von möglichst vielen Menschen aus vielen Perspektiven bestätigt.
Erstens: Die Lüge ist ein Teil der Politik – weil sie ebenso menschlich ist wie die Menschen, die Politik machen.
Zweitens: Die Lüge ist manchmal ein Mittel der Politik – der Satz „Die Politiker lügen doch alle“ ist trotzdem naiv.
Drittens: Alle Politiker haben Angst, (öffentlich) mit der Lüge in Verbindung gebracht zu werden – aber kein Politiker behauptet (unöffentlich), nur die Wahrheit zu sagen.
Viertens: Es hat sich etwas verschoben in den vergangenen Jahren – Lügen hat die Unschuld verloren, von der eh kaum jemand wusste.
Die Lüge war immer Bedingung der Macht und gleichzeitig ihre größte Gefährderin. Sie ist allgegenwärtig – das Klischee, sie würde die Welt regieren, ist trotzdem falsch. Die Lüge ist also recht dialektisch, und man ahnt schon, dass es quasi unmöglich ist, Wahrheiten über die Lüge zu sagen. Es braucht also jetzt eine These, damit wir überhaupt etwas haben, an das wir uns halten können, wir nehmen diese: Die Politik braucht die Lüge. Sie stabilisiert und vermeidet Konflikte. Das ist ein kluger Gedanke. Wir hätten ihn gern selbst gehabt. Aber um ehrlich zu sein: Er kommt von Thomas Hobbes.
Jean-Claude Juncker hat 2011 während der Griechenland-Krise zum Beispiel ein geheimes Treffen der Europäischen Zentralbank mit der Kommission und den großen Euro-Staaten dementiert, solange er konnte – und obwohl es stattgefunden hatte. Ein paar Monate vor seinem Dementi hatte er auf einer Preisverleihung gesagt: „Wenn es ernst wird, muss man lügen“, wofür er natürlich kritisiert worden war.
Die Diplomatie, sagt ein Außenpolitiker, sei in Vier-Augen-Gesprächen ehrlicher als andere politische Verfahren, weil man sich dort persönlich darauf einige, was man öffentlich sagen könne, ohne sich gegenseitig zu verletzen. Natürlich gehe man da nicht hin und sage dem anderen Diplomaten auf den Kopf zu, er lebe in einer Diktatur, die auf den Menschenrechten herumtrample – „und nun lassen Sie uns mein Problem lösen!“ Nein, man ist sich gegenseitig über das höfliche Umschweigen einig.
Vor der Bundestagswahl 2002 behauptete die Regierung Schröder, es werde keine Steuererhöhungen geben, um dann direkt nach der Wahl ein großes Steuererhöhungspaket anzukündigen. Daraufhin versuchte der sogenannte Lügenausschuss zu ergründen, ob die Regierung absichtlich über die miese finanzielle Situation des Landes gelogen hatte oder ob sie es nicht besser wusste. Vorsatz oder Irrtum? Berechnend oder dumm? Der Ausschuss kam nie zu einem Ergebnis.
Auf die Lüge war niemand stolz, aber sie war zu rechtfertigen: Sie sollte befrieden, ausbalancieren, stabilisieren im Hobbesschen Sinne, das System bewahren (und nebenbei vielleicht auch noch ein bisschen die eigene Macht). Heute ist das anders. Heute gibt es einen Politiker, der ganz ohne Scham lügt und darauf auch noch stolz ist. Und extrem mächtig: der Präsident der USA. Seine Stabilität beruht auf der Instabilität des Systems, darauf, dass niemand mehr irgendetwas glaubt, sodass die Lüge von der Wahrheit gar nicht mehr unterschieden werden kann.
Außerdem hilft ironischerweise die Wahrheit Trump beim Lügen. Denn sie ist bitter geworden, mitunter schwer erträglich, sodass manchem die Lügen Trumps als Wohltat erscheinen. Das Magazin Forbes hat ausgerechnet, dass Trump ungefähr 24-mal am Tag öffentlich lügt. Er stellt sich vor Soldaten und verspricht ihnen zehn Prozent mehr Gehalt, obwohl schon bekannt ist, dass es nur 2,6 Prozent geben wird. Er preist Medikamente an, die gegen Corona helfen sollen, obwohl ihre Wirkung nicht erwiesen ist. Der Autor Eric Alterman, der ein Buch über die Lügen der amerikanischen Präsidenten geschrieben hat, sagt, Trump habe eine neue Dimension der politischen Lüge erschaffen: die zwecklose Lüge. „Johnson, Bush, Nixon haben gelogen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Trump lügt einfach so, und es ist ihm egal, dass Leute wissen, dass er lügt.“ Die Unterstützer des Präsidenten, so Altermans These, sind zufrieden, wenn Trump regelmäßig diejenigen attackiert, die sie als Feinde einschätzen – Demokraten, die Antifa, Migranten. Die Wahrheit? Unwichtig. „Diktaturen kann man nur errichten, wenn man vorher sämtliche Fakten zerstört, über die sich alle einig waren“, sagt Alterman. Und genau dies sei der Effekt von Trumps Lügen, die er oft mit der Formulierung „Some people say …“ beginnt, „manche Leute sagen …“. Es gibt nur noch Meinungen, keine Wahrheiten mehr. Trump kommt damit durch, weil die amerikanische Öffentlichkeit in zwei Echoräume geteilt ist. Man fragt nicht mehr, was sind die Tatsachen? Sondern: Ist die Tatsache links oder rechts. Und die amerikanischen Medien haben unter „objektiver Berichterstattung“ lange verstanden, alle Meinungen abzubilden, anstatt nach der Wahrheit zu suchen. „Sie veröffentlichen die Lüge des Präsidenten – und den Faktencheck machen sie erst im nächsten Text“, sagt Eric Alterman.
Lügen wirken also nur stabilisierend, solange es noch eine Einigkeit darüber gibt, was die Wahrheit denn gewesen wäre. Und dass Wahrheit plötzlich verhandelbar geworden ist, dass also etwas abdriften könnte, das merkt man auch hier in Deutschland. Vielleicht ist es sogar irreführend, von Wahrheit zu sprechen. Gemeint ist eher der Minimalkonsens. Seitdem die AfD in den Parlamenten sitzt, im Bundestag mit 89 Abgeordneten, wird plötzlich darüber verhandelt, was früher mal nicht verhandelbar war, etwa: Haben Ausländer und Homosexuelle die gleichen Rechte wie alle? War die Nazi-Zeit bloß ein „Vogelschiss“ in der Geschichte? Ist die repräsentative Demokratie das richtige System? Wie Trump lebt auch die AfD vom Zerfall der Gewissheit.
Es gibt in der Politik also die großen Lügen und die kleineren. Von Letzteren gibt es im Politikbetrieb auch nicht mehr als in anderen Betrieben. Nur kommt bei Politikerinnen und Politikern hinzu, dass es Menschen gibt (wie uns Journalistinnen und Journalisten), die beobachten, was da vor sich geht (und von denen manche Freude daran haben, öffentliche Schlammschlachten anzuzetteln). Außerdem werden in der Politik kaum Positionen auf Lebenszeit vergeben, weshalb fast alle in dauernder Konkurrenz zueinander stehen. Das verlogene Klima, das auf diese Weise entsteht, deformiert Menschen und nimmt ihnen jene Energie, die sie woanders – oder für andere – gut gebrauchen könnten. Nicht alle halten das aus.
Eine, die lange im Bundestag sitzt: „Viele gewöhnen sich an Berlin, an diese Wagenburg, und sind dann genervt von der Parteibasis in ihrer Heimat. Weil die zu ehrlich sind.“ Berlin ist falsche Höflichkeit. Termine, die nach Freundschaft klingen, in Wirklichkeit aber Berechnung sind. Versuche, etwas aus dem anderen herauszubekommen. Berlin ist, zu sagen: „Meine Unterstützung hast du“, aber man sagt das zu allen, um wiederum von allen gemocht zu werden, und nur bei wenigen Personen ist es wahr. Das entwertet auf Dauer jedes freundliche Wort, weil es immer falsch sein kann.
Ein junger Abgeordneter: „Heute wird wahrscheinlich mehr gelogen als früher. Weil es mehr Anträge gibt, mehr Themen, mehr Papiere. Oft muss man so tun, als wisse man über Dinge Bescheid, obwohl man keine Ahnung hat.“ Zum Beispiel sagt man, dass man einen Antrag gut findet, ihn unterstützt, vor allem diesen und jenen Punkt. Einfach weil ein Parteifreund den Text geschrieben hat und obwohl man nicht genau weiß, was drinsteht.
Spricht man mit den Jüngeren, auch in anderen Parteien, dann wirkt die Verlogenheit fast wie ein witziges Spiel. Klar, man muss sich eben positionieren, sagen sie. Drehen, wenden, formulieren und umformulieren. Sätze sagen wie „Ich nehme das mit“ oder „Ich bin gleich bei Ihnen“ oder „Das nehme ich sehr ernst“ – immer gelogen, haha. Manche sehen es sogar positiv: Die Wahrheit, sagen sie, koste Zeit und Nerven. Und in der Politik kommt man nur weiter, wenn man mit beidem haushalten lernt, die eigenen Ideale zurückstellt, die Lüge schluckt für das große Ganze, um das es ja doch am Ende geht.
Und unter dem Eindruck der kleinen Büros kommen wir dann in eins der großen in der Politik und denken, dass es lustig werden könnte. Fragen: Wo haben Sie zuletzt gelogen? Welche Partei lügt am meisten? Was werden Sie niemals verzeihen? (Fragen, die zum Lästern einladen sollen.) Und dann sitzt da eine Politikerin und hat keine Lust aufs Lästern. Es wird sehr ernst plötzlich. „Je weiter man nach oben kommt“, sagt sie, „desto mehr muss man lügen. Dinge geheim halten. Man verspricht viel zu oft Sachen, die man nicht halten kann. Damit man Ruhe hat.“ Und lügt man mehr für sich oder für andere? „Für sich selbst – aber nicht gegen andere. Man darf es deshalb nicht persönlich nehmen, hintergangen zu werden. Es hat niemand was gegen dich. Du stehst nur eben gerade im Weg, in der Position, in der du bist.“
Geld-Flut, die sich zur Sintflut entwickeln kann. Es reicht ein „Meeresbeben“ wie beim Tsunami 2004.
Oder einen Donald Trump, der nicht abtreten will und alle Register zieht.
Vor knapp acht Wochen rief Rosa Brooks, Juraprofessorin an der Georgetown-Universität in Washington, eine Gruppe von 67 Männern und Frauen zusammen, um sich auf das Unvorstellbare vorzubereiten: einen amerikanischen Präsidenten, der aus dem Weißen Haus heraus den Staatsstreich plant.
Die Runde umfasste Amerikaner jeglicher politischer Couleur: John Podesta, der Wahlkampfmanager Hillary Clintons, war genauso dabei wie der Neokonservative Bill Kristol, der einst den republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain unterstützt hatte, dazu zwei frühere Gouverneure sowie pensionierte US-Militärs. Was alle einte, war die Sorge, dass Trump sich bei der Wahl am 3. November zum Sieger ausrufen könnte – und zwar ganz egal, wie die Bürger zuvor abgestimmt haben.
Die Runde wollte ergründen, wie weit ein Präsident kommt, der sich weigert, das Oval Office zu räumen. In Videokonferenzen spielten die Teilnehmer vier Szenarien durch. Sie reichten von einem Erdrutschsieg des Demokraten Joe Biden bis hin zu einem völlig offenen und chaotischen Wahlabend. Weil die Teilnehmer alle Tricks des politischen Geschäfts kennen, war es eine Art Stresstest für die mehr als 200 Jahre alte US-Verfassung.
Trump wiederum hat längst seine persönliche Unabhängigkeitserklärung abgegeben: Fakten interessieren ihn kaum, Regeln sind für andere da.
Doch es bleibt die Hoffnung und der Fluch, dass er gewinnt. Auch dank dem schwachen Dollar, der FED und last but not least Fitch!