WECK-RUF ⇔ HALLO WACH!
tv.berlin Spezial – Welche Folgen hat der Krieg für Deutschland?
Wie kann man Putin noch stoppen?
Ist unsere Energielieferung gefährdet?
Müssen wir unser Sicherheitskonzept neu definieren?
Die ganzen Fakten und Hintergründe zum Krieg!
Frank Henkel diskutiert mit:
Wolf-Ruthart Born – Ehemaliger deutscher Diplomat.
Gerd Schultze-Rhonhof – Ehemaliger Generalmajor, der Bundeswehr.
Dr. Hans-Georg Maaßen – Jurist und von 2012 bis 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Buchauszug: Wie ich lernte, die Welt zu verstehen –
01.12.2019 – Hans Rosling und Fanny Härgestam.
Für seine faktenbasierte Weltsicht war Hans Rosling international bekannt und berühmt. Vorlesungen vor Studierenden in Stockholm, Vorträge auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, Freundschaften wie mit Melinda und Bill Gates oder Gespräche mit dem Revolutionsführer Fidel Castro bestärkten ihn in seiner Botschaft:
Wir müssen unser vermeintliches Wissen über den Zustand der Welt hinterfragen und uns den Fakten zuwenden – denn die Wirklichkeit ist oft viel besser als wir glauben. Im Folgenden handelt es sich um einen Auszug aus dem Buch „Wie ich lernte, die Welt zu verstehen“, im Ullstein Buchverlag erschienen, von Hans Rosling und Fanny Härgestam.
Ich war neunundzwanzig Jahre alt, hatte zwei Kinder und Krebs. Agneta und ich umarmten uns und weinten. Würde ich die Kinder aufwachsen sehen? Würde ich überleben? In mir vereinten sich das schwärzeste Chaos und die stärkste Liebe. Wenn sich das ganze Leben solchermaßen verändert, braucht man einen Plan. Was geschieht jetzt – und morgen? Darum kümmerte sich Agneta. Sie managte alles und trug mich durch die Tage, Wochen und Monate. Innerhalb einer Stunde organisierte sie unbezahlten Urlaub von ihrer Arbeit für die kommenden Monate. Sie vereinbarte mit ihrer Tante Eda, dass die ganze Familie auf deren Hof außerhalb von Uppsala wohnen durfte statt zu Hause in Hudiksvall.
Sie erklärte den Kindern, dass wir nicht nach Afrika führen, sondern stattdessen bei Tante Eda wohnen würden, wo wir immer Weihnachten feierten. Wir beluden das Auto. Mir fiel die Aufgabe zu, mit den Kindern die Spielsachen einzupacken. Agneta hatte gerade erst den Führerschein gemacht und fuhr nicht gern Auto. Doch sie brachte uns dorthin. Es war ein Sonntag, und als wir nach Uppsala hineinfuhren, war ich ergriffen vom Anblick des Schlosses und des Doms. Hier war ich aufgewachsen, und ganz plötzlich wurde ich traurig. Agneta hielt an, und ich stieg aus, um mich zu beruhigen. In der folgenden Woche begannen die Tests und die Bestrahlung. Es war die Hölle. Nachdem die Leberwerte Anomalitäten aufgewiesen hatten, wurden vermeintliche Metastasen in den Lymphknoten und in der Leber entdeckt. Die Lymphknoten konnte man bestrahlen, aber Metastasen in der Leber bedeuten den Tod innerhalb eines Jahres.
Das ganze Leben kam zum Stillstand. Mosambik existierte nicht. Alles drehte sich nur ums Überleben. Ich weinte tagelang, während Agneta sich um die Kinder kümmerte und mich tröstete. Die Krankheit führte dazu, dass ich gegenüber meiner Umgebung missgünstig wurde. Sie hatten ein schönes Leben, während ich selbst der Bote von Trauer und Elend war. Ich konnte nur im Garten in der Hollywoodschaukel liegen und Kommissar Maigret lesen. Meine Mutter kam damit nicht zurecht. Sie war zu traurig, als dass sie mir eine Stütze hätte sein können. Agnetas Tante Eda und deren Mann Per ignorierten meine Krankheit, was sehr angenehm war. Sie fragten mich nicht, wie es mir ging, sondern halfen uns einfach mit praktischen Dingen. Per, der Zweiter Hafenmeister in Sigtuna war, organisierte für uns ein kleines Segelboot. Das Haus war groß, und die ganze Familie fand in der oberen Etage Platz. Vom Hof aus war ich schnell in der Onkologie in Uppsala für meine Bestrahlungen.
Mein Ziel war es, solange zu leben, dass ich dabei sein konnte, wenn die Kinder eingeschult wurden. Einige Tage später saß ich auf meinem Bett in der oberen Etage von Edas Hof und schaute hinaus auf die Apfelbäume. Da fiel mir plötzlich etwas ein: Vor zehn Jahren hatte ein Arzt schon einmal zu mir gesagt, dass meine Leberwerte erhöht seien und ich meinen Alkoholkonsum einschränken solle. Das war merkwürdig, da ich überhaupt keinen Alkohol trank. Die Werte hätten damals beobachtet werden sollen, aber dazu war es nicht gekommen.
Die Patientenakte musste noch existieren, in der Infektiologie, wo ich gearbeitet hatte. Dort kannte ich außerdem die sehr kompetente Stationsschwester. Innerhalb einer Minute wusste ich, was zu tun war: die Notiz finden und mir die damaligen Laborergebnisse ansehen. Ich gebe nie auf, solange ich nicht völlige Klarheit habe. Viele finden deshalb meine Gegenwart schwer zu ertragen. Diesen Charakterzug hatte ich schon, als ich durch Europa trampte. Ich saß vor der Jugendherberge in Marseille, wo ich der jüngste der Tramper war. Die anderen nannten mich »der Junge mit dem blauen Buch«, denn ich hatte immer den Europaatlas des schwedischen Automobilklubs Motormännens Riksförbund in der Hand. Der Atlas enthielt auch Fakten über europäische Städte, weshalb ich Aussagen, die jemand in meiner Umgebung machte, überprüfen und kommentieren konnte, wie: »Nein, du irrst dich, Prag ist viel älter, als du gesagt hast.« Meine ganze Forschung und die Lehrtätigkeit, der ich mein Leben gewidmet habe, beruhten darauf, herauszufinden, wie die Dinge wirklich sind.
Ich fuhr zum Krankenhaus, und es dauerte eine Stunde, bis ich die Erlaubnis der Krankenschwester hatte und die Beschreibung, wo ich die handgeschriebene Patientenakte im Kellerarchiv finden könne. Wir legten die Akte im Archiv auf einen kleinen Tisch. Durch das Kellerfenster über uns fiel ein Lichtstrahl herein. Ja, ich hatte die gleichen erhöhten Leberwerte schon vor zehn Jahren gehabt, also waren sie womöglich nicht auf den Krebs zurückzuführen. Jetzt konnte ich Hoffnung schöpfen, ohne gleich überschwänglich zu werden. Ich war immer noch ganz weit unten. Nun musste ich herausfinden, was Sache war. Eine Woche später hatte ich die Diagnose Chronische Hepatitis statt Leberkrebs – ein echter Lichtblick. Zwei Wochen später wurden auch die Lymphknoten noch einmal überprüft, und die Ergebnisse besagten, dass ich auch keine Lymphmetastasen hatte. Die zweite Serie an Bestrahlungen wurde abgebrochen.
Es war sehr verwirrend – würde mein Leben noch einmal neu beginnen? Hatte ich keine Metastasen? Wir zogen wieder in unsere Wohnung in Hudiksvall. Ich ging jeden Monat zur Kontrolle, dann jeden zweiten Monat. Die Zeit verging, und der Krebs kam nicht wieder. Es fiel mir erstaunlich schwer, an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Viele Kollegen wussten nicht einmal, dass ich krank gewesen war. Im Aufzug begegnete ich einem Kollegen, der ausrief: »Du bist wieder zurück! Wie war es in Afrika?« Allen von meiner Krankheit zu erzählen – oder mich zu entscheiden, eben nichts zu erzählen – war aufreibend. Aber das Leben ging weiter, und die Motivation, nach Mosambik zu gehen, wurde wieder größer. Ein Jahr verging. Die Frage war, ob ich nach den Bestrahlungen gesund genug war und wie die neue Diagnose der Leberkrankheit meine Möglichkeiten, in Afrika zu arbeiten, beeinflusste. Agneta und ich führten darüber abends eingehende und innige Gespräche. Fahren wir, fahren wir nicht? Wie wollen wir leben? Wir wollten fahren. Wir spürten, dass uns das bestimmt war. Unser bisheriges Leben war die Vorbereitung darauf gewesen, die Reise durch Asien ebenso wie unsere Fortbildungen und unser Engagement für ARO – den gesamten Buchauszug lesen.
Eine Buchbesprechung von Dr. Urs Kaegi.
Heute bespreche ich ein Buch, das auf den ersten Blick wenig mit Selbstorganisation zu tun hat. Ruter Bregman, ein niederländischer Historiker, laut Klappentext «einer der bekanntesten jungen Denker Europas, stellt in seinem umfangreichen Buch mit dem simplen Titel «Im Grunde gut» dar, weshalb häufige Vorstellungen des Menschen auf falschen Prämissen beruhen. An vielen Beispielen bearbeitet er nicht die von Machiavelli, Hobbes und Co. forcierte These, dass der Mensch von Natur aus böse ist und es gilt, die Menschen durch Zivilisation voreinander zu schützen, sondern dass wir im Grunde «gut» sind. Sein Buch hat seit Erscheinen hohe Beachtung gefunden, obwohl es, laut Bregman, schwer war einen Deutschen Verleger zu finden.
Ich habe es für eine Rezension im Rahmen des Netzwerks ausgewählt, weil darin die Haltung und eine zentrale Grundannahme der Selbstorganisation bearbeitet wird: das Bedürfnis sich aktiv und zum Wohle des gemeinsamen Ziels in Organisationen einzubringen.
«Im Grunde gut» proklamiert einen «neuen Realismus». Bregman meint damit die Überzeugung, dass «die meisten Menschen im Grunde gut sind». In ganz vielen Beispielen, auf welche ich weiter unten zu sprechen komme, versucht er zu belegen, dass die Überzeugung, dass wir im tiefsten Inneren nicht wilde, von Trieben und nur auf unseren Vorteil fokussierte Wesen sind, welche nur dank Erziehung und Zivilisation einigermaßen zusammenleben können. Stattdessen sieht er die meisten Menschen als wohlwollende, aktiv handelnde und kooperative Wesen, welche sich vor allem am sozialen Miteinander ausrichten.
Das Buch (479 Seiten) richtet sich, aus organisationaler Sicht, an keine spezifische Zielgruppe. Es spricht Menschen an, die sich am Diskurs über die Wirkung der Annahme eines Menschen als «Wolf im Schafspelz» versus «sozial-integrativ handelndes Wesen» interessieren.
Um was geht es?
Im Zentrum des Buches steht die Diskussion, weshalb der Denkfehler des Menschen als Spezies, welche sich dank Stärke, Intelligenz und List gegenüber den anderen Spezies durchsetzen konnte, entstanden ist, resp. so bedeutend wurde. Dabei geht Bregman der grundsätzlichen Frage nach der Natur der menschlichen Wurzeln aus dem Weg, Die Frage, ob Wolf oder Lamm, stellt er nicht wirklich, sondern er zeigt auf, wie die unterschiedlichen (binären) Denkmodelle entstanden sind und plädiert klar für ein kooperatives Menschenbild. Nicht, weil der Mensch von Natur aus so ist, sondern dieser Blick auf den Menschen viel mehr Entwicklung zulässt, als die ständige Angst vor dem Wolf, der durchbrechen könnte.
Mir gefällt, dass er sich nicht auf die Frage nach der «wirklichen Natur» einlässt, da dies ja doch eher eine Glaubensfrage ist, welche sich zumindest bis heute nicht wissenschaftlich beantworten ließ. Den «guten Menschen» macht er an (zu?)-vielen Beispielen aus Psychologie, Ökonomie, Biologie Archäologie und Geschichte fest. Eine unglaubliche Sammlung, welche ich beim Lesen mit der Zeit übersprang. Ich habe mir dann die Beispiele ausgewählt, die mich interessierten.
Wie ist das Buch aufgebaut?
Der Autor legt bereits im Prolog ausführlich dar, weshalb er sich für ein Menschenbild einsetzt, welches Menschen als im Grunde gut betrachtet. Er meint, dass es sich eigentlich um einen Nocebo-Effekt handelt (negativer Placebo-Effekt), also einer negativen Erwartungshaltung, welche ohne naturwissenschaftlichen Nachweis diese Wirkung erzielt. Diese Haltung wird durch Filme, Forschungsprojekte, Medien u.a. bewirkt, welche versuchen den Eindruck zu erwecken, dass wir «egoistische Tiere» sind, welche von oben herab kontrolliert, reguliert und dressiert werden müssen. Nur so ist es aus diesem Blickwinkel möglich, dass wir zusammenleben können. Bregman nennt dies die Fassadentheorie – wir zeigen eine zivilisierte Fassade hinter der sich im Kern das wilde Tier versteckt. Im Prolog stellt Bregman diesen Ansatz mit dem Buch und Film «Herr der Fliegen» dar und stellt diesen dann einem wirklichen Ereignis gegenüber, bei dem sechs Jungs während 15 Monaten auf einer einsamen Insel miteinander Leben mussten und sich kooperativ, freundschaftlich und loyal verhielten.
Im Teil 1 («Der Natur-Zustand») werden zwei Quellen genannt, welche den beiden Haltungen zugrunde liegen: Jean-Jacques Rousseau, welcher den Menschen als von Natur aus gut betrachtet, aber durch die Umwelt verdorben wird. Und auf der anderen Seite Thomas Hobbes, welcher den Menschen als von Angst getrieben sieht und deshalb Macht über die anderen erlangen will. Bergman listet, wie es sich für einen Historiker gehört, sorgfältig die Quellen auf, welche zu den beiden Annahmen geführt haben. Er legt dann an verschiedenen Experimenten dar, weshalb es eigentlich heißen müsste «survival of friendliest», ja, dass wir uns sogar in unserem Äußeren so verändert haben, dass wir zum Homo Puppy (S. 86) wurden. Ein wichtiges Indiz in unserer Entwicklung sieht er darin, dass wir als einzige Spezies ausgeprägtes soziales Lernen kennen.
Es folgen dann in den weiteren Kapiteln viele Beispiele, welche darlegen, weshalb sich die Fassadentheorie zu so großer Beliebtheit aufgeschwungen hat. Dazu gehören die Geheimnisse um die Osterinseln (ab S. 139), das Stanford-Experiment (ab S. 167), das Milgram-Experiment, die fehlende Hilfe an Kitty Genovese aus den 60er-Jahren, Machiavelli, und der Strafvollzug (Kap. 17). Und nicht zu vergessen ein ganzes Kapitel (13) zu Jos de Blook und Buurtzorg. Dabei erfährt man, dass Jos de Blook sein Mitarbeiter nicht motiviert, da er denkt, er würde sie dadurch bevormunden und dass er auch wenig von großen Visionen hält, um Mitarbeitenden zu motivieren. Sein Menschenbild geht davon aus, dass sein Mitarbeitenden innerlich motiviert sind und selbst am besten wissen, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Leider bringt Bregman in diesem Kapitel noch das Beispiel von FAVI aus dem Buch von Laloux – FAVI ist nach dem Abgang von Zobrist wieder zu alten hierarchischen Strukturen zurückgekehrt… Dieses Kapitel schließt aber mit einem schönen Satz, den ich nicht vorenthalten möchte: „Denn nichts ist wichtiger als Menschen, die etwas tun, weil sie es tun wollen”. (S. 307). Nicht auslassen sollte man den Epilog, in welchem Bergman «zehn Lebensregeln» benennt und meint damit den Versuch, die Neue Welt aus individueller Sicht zu skizzieren. Sehr knapp, auf 15 Seiten, versucht Bergman darzulegen, was man selbst tun kann, um beim Bild des guten Menschen zu bleiben. Obwohl er dann selbstkritisch und treffend meint: „eine bessere Welt fängt nicht bei einem selbst, sondern bei uns an”. Treffer!
Meine Highlights:
Ich habe versucht, das ganze Buch zu lesen, muss aber gestehen, dass mir die vielen interessanten Beispiele irgendwann zu umfangreich wurden. Alle haben zum Ziel zu zeigen, was bei diesen schiefgelaufen ist, dass ein negatives Bild vom Menschen gezeichnet wird und wie man die Ergebnisse auch anders interpretieren kann. Meine Highlights waren die ethnologischen Betrachtungen zu den Osterinseln (Kap. 6) sowie die neue Interpretation von Stanford (Kap. 7) und Milgram (Kap. 8). Aber da hat jede*r wohl seine eigenen Präferenzen. Das Schöne ist: man kann auswählen. Da ist für jede*n etwas dabei.
Mein Fazit:
Wer sich für Menschenbilder und Haltungen interessiert, wird sich über Rutger Bregman freuen. Er skizziert ein Menschenbild, welches stark durch die Selbstorganisation gefördert wird, resp. aus dem sich die Notwendigkeit der Selbstorganisation ableiten lässt. Er macht das unprätentiös und wenig missionarisch, trägt äußerst fleissig und akribisch neue Fakten zusammen und konstruiert sich daraus das Bild des „guten Menschen”. Und wer für sich selbst etwas abschneiden will, dem seien hier noch zwei der zehn Lebensregeln aus dem Notizbuch von Bergman verraten (wenn gleich er eigentlich nicht das Individuum in den Fokus rückt): Geh im Zweifelsfall vom Guten aus. Verbessere die Welt, stelle eine Frage.
Viel Spaß, Urs Kaegi.
Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit (Ungekürzte Lesung) – von Rutger Bregman – Gesprochen von Julian Mehne – Link zu: „Der etwas andere Blick …”.