Menschen haben Angst.

Angst vor Tod und Krankheiten, Angst vor Inflation und Krieg und Angst davor, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und im Winter zu frieren. Warum diese Ängste so komplex sind und wie sie entstehen, diesem wichtigen Thema, will sich dieser Beitrag aus verschiedenen Blickwinkeln nähern.

Angst – ist ein Ur-Gefühl und gehört so zu den natürlich-konstruktiven E-Motionen. Ständig unterdrückte Angst führt über Ekel bis hin zur Panik, eine destruktive Emotion.
Furcht ist von Angst durch Tiefe im Unbewussten zu unterscheiden! – siehe auch Gefühle und Gefühl-, Denk-, Handel-, Verstehen-, TUN und SEIN-Gefängnis.

Angst ist das Gefühl der Unheimlichkeit und des Ausgesetztseins in der Welt. Oft geht Angst mit psychischen Störungen einher. Doch sie ist auch nützlich: Ohne die Angst hätte die Menschheit früher kaum überlebt – non Kai Althoetmar:


Angst – Physiologie und Verhalten.

Körperliche Symptome der Angst sind beim Menschen neben individuellen Besonderheiten vor allem Herzklopfen, Anstieg des Blutdrucks, schnelle Atmung bis hin zur Atemnot, trockener Mund, veränderte Mimik, Blässe oder Erröten, Schwitzen, Zittern, Schwäche, Schwindelgefühl, Durchfall, Harndrang und Übelkeit sowie eventuell auch Wahrnehmungsstörungen oder Ohnmacht. Vermittelt werden diese Reaktionen durch das sympathische Nervensystem (Sympathikus, vegetatives Nervensystem). Dadurch wird ein Aktivierungsmuster eingeleitet, das körperliche Ressourcen für das Handeln bereitstellt, aber unter Umständen zunächst zu Lähmung und Verharren (Schreckstarre) führen kann (dies ist vorteilhaft, weil viele Raubtiere auf Bewegung reagieren). Angst ist behavioral durch Vermeidungs- und Fluchtverhalten oder Abwehr gekennzeichnet und somit das Gegenteil zur explorativen Neugier (Erkundungsverhalten), die mit positiv empfundener Erregung einhergeht. So kann die Begegnung mit Unbekanntem je nach Bereitschaft und Erleben der Situation sowohl angstvolles Weglaufen als auch neugierige Hinwendung hervorrufen. Nicht nur beim Menschen unterdrückt Angst leicht die Freude an Erkundung, Spiel, Nachahmung und Kreativität. Ein gewisses Spiel mit der Angst in einem kontrollierten Rahmen (von Abenteuer-Erzählungen über die Geisterbahn bis hin zum Horrorfilm und dem „Nervenkitzel“ im Extremsport) wird jedoch von vielen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen – auf unterschiedliche Weise – als lustvoll erfahren („sensation seeking“). Im subjektiven Erleben reicht Angst von der Furcht vor konkreten Bedrohungen (extrem als Todesangst) über die Verlassensangst (insbesondere bei Säuglingen und kleinen Kindern) bis hin zur Lebens-, Existenz- und Weltangst und kann die Persönlichkeit stark verändern sowie Motivation, Bereitschaft und Handlungssteuerung schwer beeinträchtigen. Daß, wie und welche Tiere bedrohliche Situationen auch subjektiv als Gefahr erleben, also Angst nicht nur physiologisch und behavioral zeigen, sondern auch verspüren (Bewußtsein), läßt sich nicht beweisen, sondern über Analogieschlüsse allenfalls vermuten.

Angst in der Psychologie.

William James verstand Angst (und andere Emotionen) als Ergebnis visceraler Empfindungen: das Pochen des eigenen Herzens zu fühlen, die Verengungen der Brust zu spüren usw. – Im Rahmen der Psychoanalyse hat Sigmund Freud Angst vielschichtig, aber auch widersprüchlich erörtert und mit dem „Trauma der Geburt“ in Verbindung gebracht. Freuds Unterscheidung des dreistufigen Aufbaus der menschlichen Psyche spiegelt sich wider in der „Realangst vor der Außenwelt [im Ich], Gewissensangst vor dem Über-Ich [und der] neurotischen Angst vor der Stärke der Leidenschaften im Es“. Die Triebabwehr aus Realangst kann nach Freud in eine infantile Neurose münden; pathologische Angst (Angstneurosen) interpretierte er als Ausdruck tief reichender Konflikte zwischen Grundantrieben eines Individuums (z.B. Autonomiestreben, Sexualbedürfnis) und seiner psychosozialen Realität (z.B. verinnerlichte moralische Normen, die diese Grundantriebe verbieten). Alfred Adler erkannte eine Vielfalt sozialer Ängste und ihre Beziehung zum Minderwertigkeitsgefühl und hielt die Unterdrückung des Aggressionstriebs (Aggression) für die Quelle der Angst. – In der Persönlichkeitspsychologie wird unterschieden zwischen einer allgemeinen Ängstlichkeit als Persönlichkeitsmerkmal (teilweise erbliche Charaktereigenschaft) und Angst als kurzfristig bestehender Zustand. Kleine Kinder, die besonders schreckhaft und schüchtern sind, werden später eher emotional labil sowie überdurchschnittlich häufig von Ängsten und Phasen tiefer Niedergeschlagenheit geplagt sein und psychisch krank werden (was nicht heißt, dies sei ein unausweichliches Schicksal). Sie sind aufgrund einer chronischen Überproduktion von Streßhormonen wie Cortisol auch anfälliger für körperliche Erkrankungen. Da sie leicht in einen Teufelskreis von Rückzug und sozialer Isolation geraten können, sollte mit einer Therapie früh begonnen werden. – In der Lernpsychologie wird Angst als subjektive (emotionale), physiologische und motorische Reaktion auf einen aversiven Reiz aufgefaßt. Im Rahmen des Behaviorismus wird sie als erlerntes Bedürfnis interpretiert. Für John B. Watson galten die Furcht vor lauten Geräuschen und vor dem Verlust des Ernährers (loss of support) zwar noch als angeboren, doch seine Nachfolger nahmen davon Abstand. Angst kann sowohl durch aversives klassisches als auch durch operantes Konditionieren gelernt werden (Konditionierung). Bei der klassischen Konditionierung wird ein natürlicher Stimulus (bedingter/konditionierter Reiz) konsistent mit einem aversiven Stimulus (unbedingter/unkonditionierter Reiz) dargeboten. Ist die Konditionierung erfolgt (Lernvorgang!), löst der bedingte und ehemals neutrale Reiz schon allein die Fluchtreaktionen aus. Auf diese Weise kann z.B. ein eigentlich harmloser Ton zur Furcht führen (siehe Tab. konditonierte Angst). Bei der operanten Konditionierung (instrumentelle Konditionierung) werden bestimmte Verhaltensweisen, Sinneseindrücke oder Körperempfindungen mit einem furchterregenden Erlebnis assoziiert. Solche Assoziationen können krankhafte Ausmaße erreichen und zu pathologischer Angst führen, d.h. zu Angststörungen, Phobien und Angstneurosen (generalisierte Angststörung, Panikstörung, posttraumatische Belastungsstörung, Zwangsstörung) oder pathologischer Sorge (psychotische Angst z.B. bei Schizophrenie oder endogener Depression hat andere Ursachen; auch bei der Epilepsie kann ein Angstdelirium auftreten; bei Angina pectoris und Thyreotoxikose ist Angst ein somatisches Symptom). Angststörungen werden heute vorwiegend als neuronale „Fehlprogrammierungen“ betrachtet, die zur Folge haben, daß eine Vielzahl von Reizen der Umgebung, aber auch eigene Verhaltensweisen, z.B. die Kontaktaufnahme mit Mitmenschen, als bedrohlich empfunden und deshalb vermieden (bedingte Aversion, Vermeidungsverhalten) oder unterdrückt werden (bedingte Hemmung), oder daß autonome Körpersignale fehlinterpretiert werden und als bedingte (innere) Stimuli wirken, was Panik-Anfälle auslösen kann. Diese gelernten Assoziationen müssen nicht notwendig bewußt sein. Über den berühmten Fall Anna O. hatten Josef Breuer und Sigmund Freud geschrieben, daß „Hysteriker vornehmlich unter Erinnerungen leiden“ bzw., wie es Matthew Erdelyi formulierte, unter „traumatischen Erinnerungen, die sie aus dem Bewußtsein gelöscht haben“. Diese Hypothese war eine der Ausgangspunkte für die Entwicklung der Psychoanalyse. Daß Angst das Ergebnis von Lernvorgängen ist, die zumindest teilweise auf Konditionierung basieren, ist auch – bei allen Unterschieden – die Quintessenz der verschiedenen behavioristischen Theorien. Neurobiologische Forschungen können sogar erklären, inwiefern gelernte Angst ihre Spuren hinterläßt und – wie auch bei Tieren beobachtet – spontan, unter Streß oder bei schwachen Auslösern sich wieder bemerkbar machen kann, obwohl die Angsterfahrungen aus dem expliziten Gedächtnis gelöscht waren.

Angsttherapie.

Bei subjektivem Leidensdruck ist zunächst Ruhe und Distanzierung geboten, aber auch eine aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Zustand. Personen, die ihre Angst leugnen, neigen dazu, hohe Angst zu entwickeln, diese aus sozialen Gründen (Konformitätszwang usw.) aber abzustreiten, während Personen mit hoher Empfindsamkeit für ihre Angst schon beim Vorliegen geringster Warnanzeichen Alarm schlagen und Bedrohungen aufzuspüren versuchen, was eine Eskalation ihrer Ängste zur Folge haben kann. Das Zugeben oder Leugnen von Angst spielt auch in der Streßverarbeitung eine diagnostisch wichtige Rolle (Coping). Ärztliche Therapien verfolgen unterschiedliche Strategien. Die Wirksamkeit der verschiedenen Behandlungsmethoden (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, kognitive Therapie usw.) ist umstritten. Psychoanalytiker und manche Behavioristen sehen das Ziel der Therapie in der Auflösung unbewußter Konflikte. Andere Behavioristen bezweifelten die Wirkung unbewußter Erinnerungen und favorisieren das Motto: „Werde die Symptome los, und du hast die Neurose beseitigt.“ In der Verhaltenstherapie, die sich insbesondere bei der Heilung von Phobien als eine effektive Methode erwiesen hat, wird mittels Desensibilisierung, Angstüberflutung usw. eine Gegenkonditionierung (forcierte Extinktion) angestrebt, während Psychoanalyse und kognitive Therapie im Gespräch usw. versuchen, die Angstgefühle durch eine Veränderung der bewußten Einstellung zu ihnen zu kontrollieren. Hilfreich können auch Anxiolytika sein, die freilich Nebenwirkungen haben und von einer Psychotherapie begleitet werden müssen.

Angst im Gehirn.

Bei der Entstehung von Angst und Furcht spielen verschiedene Gehirnbereiche eine Rolle. Teile der Schläfenlappen sind bei Panikstörungen ebenso wie bei nichtpathologischer Angst besonders stark durchblutet, und elektrische Stimulationen (wie auch epileptische Anfälle) können dort u.a. Angst erzeugen. Der präfrontale Cortex hat neben kognitiven auch emotionale Funktionen; Läsionen (Lobotomie) reduzieren die Gefühle, einschließlich der Angst. Der präfrontale Cortex muß nach der Geburt noch ausreifen und kann erst dann bei der Unterscheidung und Deutung von Sinneseindrücken – also auch von Gefahren – mitwirken. Das dauert z.B. bei Rhesusaffen 9-12 Wochen, bei Menschen 7-12 Monate (vielleicht setzt deswegen bei kleinen Kindern dann das Fremdeln ein). Der Hypothalamus spielt bei der Entstehung von Angst ebenfalls eine wichtige Rolle und ist ein Zielort für Psychopharmaka (siehe unten). Er beeinflußt das sympathische Nervensystem (Sympathicus): Er sekretiert das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH), wenn er Streß-Signale aus dem Cortex oder anderen Bereichen des limbischen Systems empfängt. CRH bewirkt, daß die Hypophyse Corticotropin (adrenocorticoptropes Hormon, ACTH) ausschüttet, das wiederum die Freisetzung von Cortisol in der Nebennierenrinde veranlaßt. Auf diese Weise wird der Organismus in Verteidigungsbereitschaft gesetzt, und die Wirkungen von ACTH erklären einige der genannten physiologischen Veränderungen. Mäuse, deren Gen für das CRH-Bindeprotein gentechnisch bereits in der befruchteten Eizelle zerstört wurde, zeigten ständig ein ängstliches Verhalten, und zwar auch ohne äußeren Anlaß. Das Protein bindet normalerweise CRH und reduziert so dessen Aktivierung von Rezeptoren, die die Ausschüttung von Streßhormonen und andere Stoffwechselprozesse in Gang setzen. Der für die Angstentstehung und das Furchtgedächtnis bedeutendste Hirnbereich ist die Amygdala (siehe Tab. Rolle der Amygdala). Bildgebende Verfahren (Positronenemissionstomographie, funktionelle Kernspinresonanztomographie) zeigen, daß die Amygdala bei Angstzuständen aktiv ist, auch bei Angststörungen wie z.B. Phobien. Wird sie elektrisch stimuliert, erhöhen sich Herzschlag- und Atemfrequenz, Blutdruck usw. sowie die Konzentration von Cortisol, was den natürlichen und konditionierten Furcht-Anzeichen entspricht; Menschen berichten zudem von Angstgefühlen. Im Traumschlaf ist die Amygdala besonders aktiv und wohl die Ursache für die starke emotionale Färbung der Träume. Vielleicht werden Alpträume sogar von spontanen Aktivitäten des zentralen Nucleus der Amygdala ausgelöst, ebenso die ungerichteten Angstgefühle. Läsionen der Amygdala führen zur Gefühlsarmut, einschließlich einer deutlichen Abnahme von Angst. Diese Läsionen reduzieren auch die Veränderungen des elektrischen Hautwiderstands (elektrodermale Aktivität), bei denen es sich normalerweise um eine typische Reaktion auf emotionale Stimuli handelt. Zumindest bei angeborenen Schädigungen der Amygdala, z.B. durch Calcium-Einlagerung bei der Urbach-Wiethe-Krankheit, wird außerdem das Vermögen beeinträchtigt, emotionale Ausdrücke in anderen Gesichtern zu erkennen (auch auf Fotos), insbesondere Furcht. Die Amygdala besteht aus mehreren eng miteinander verschalteten Kernen, wobei für die Furchtreaktion vor allem der zentrale und der laterale Kern sowie basale Kerne von Bedeutung sind. Der zentrale Kern empfängt Informationen vom Cortex, Hippocampus und – vermittelt über die basolaterale Amygdala (lateraler Nucleus und basale Nuclei) – aus dem Thalamus. Der zentrale Kern leitet Signale an Hirnstrukturen weiter, die verschiedene emotionale Reaktionen steuern, darunter den lateralen Hypothalamus, der den Blutdruck erhöht, den paraventrikulären Hypothalamus, der die Ausschüttung von Streßhormonen reguliert, und den Hirnstamm sowie das zentrale Höhlengrau des Mittelhirns (Mesencephalon), die Schreckstarre und Schreckreaktion vermitteln. Über die basolaterale Amygdala werden Veränderungen des Verhaltens gesteuert, z.B. Richtungswechsel bei der Flucht. Die Amygdala ist auch an der Ausbildung von Angststörungen beteiligt.

Die neuronalen Grundlagen der auditorischen Angst-Konditionierung.

sind besonders gut erforscht, und dabei hat sich gezeigt, daß der zentrale Kern der Amygdala als Speicherort eine Schlüsselrolle spielt. Im Experiment hören z.B. Ratten einen Ton und erhalten dann einen elektrischen Schlag. Bald reagiert das Tier auf den Ton allein mit angsttypischen Merkmalen (Schreckstarre, Erhöhung der Schreckhaftigkeit, Herzschlagfrequenz, Atmung usw.). Akustische Reize gelangen über die Ohren und Hörnerven in die akustischen Kerne des Hirnstamms, von dort in die Colliculi inferiores im Mittelhirn und über das Corpus geniculatum mediale (der auditorische Relais-Kern des Thalamus) in die Hörrinde (verschiedene Regionen des auditorischen Cortex). Läsionsstudien wiesen den entscheidenden Anteil der Amygdala bei der Angst-Konditionierung nach. Sie erhält Informationen vom Corpus geniculatum mediale, und zwar sowohl direkt als auch indirekt, vermittelt über den auditorischen Cortex. Die schnelle Route über den sensorischen Thalamus, wo Sinneseindrücke nur „unscharf“ repräsentiert werden, ist für eine rasche Reaktion notwendig (sie dauert bei Ratten nur zwölf Millisekunden). Der längere Weg über den sensorischen Cortex sorgt für eine größere Spezifität, braucht aber die doppelte Zeit. Läsionen beider Verbindungsbahnen oder des Corpus geniculatum mediale oder der Amygdala blockieren die Angst-Konditionierung, nicht jedoch Läsionen des auditorischen Cortex allein. Angst-Konditionierungen mittels einfacher Töne benötigen den auditorischen Cortex – und somit kognitive Fähigkeiten – nicht, wohl aber solche mittels komplizierterer Tonfolgen. Die Läsionen vermindern auch angeborene Furchtreaktionen (z.B. fliehen Ratten nicht mehr vor Katzen, Vögel nicht vor Menschen). Läsionen des Hippocampus beeinträchtigen die Angst-Konditionierung über den bedingten Reiz nicht, wohl aber über den Kontext (kommt der bedingte Reiz zusammen mit anderen Reizen vor, können diese unter Umständen auch allein die Reaktion auslösen). Diese Befunde beweisen zudem, daß das explizite Gedächtnis und das emotionale Gedächtnis unterschiedliche Systeme sind, obwohl sie oft parallel arbeiten (zumal Cortex, Hippocampus und rhinale Übergangsbereiche mit der Amygdala verschaltet sind; siehe Zusatzinfo unbewußtes Angstgedächtnis). Dafür spricht auch, daß bei posttraumatischen Belastungsstörungen die traumatischen Erlebnisse oft ganz oder vorübergehend vergessen werden (was mit einer streßbedingten Beeinträchtigung des Hippocampus zusammenzuhängen scheint), die Angst jedoch bleibt und immer wieder aufsteigt. Die Funktion der Amygdala wird von Streß nicht beeinträchtigt, sondern sogar gefördert (Streßhormone verstärken Angst-Konditionierungen), und das scheint ein entscheidender Grund dafür zu sein, daß sich Angst hartnäckig und außerhalb der bewußten Kontrolle ins Gehirn gleichsam einbrennen und unter Umständen ein ganzes Leben lang quälende Wirkungen haben kann. Für die molekularen Grundlagen des emotionalen Gedächtnisses scheint der Mechanismus der Langzeitpotenzierung (LTP) von großer Bedeutung zu sein (LTP spielt für die Erklärung des assoziativen Lernens allgemein eine paradigmatische Rolle). Diese Form der neuronalen Plastizität (Plastizität im Nervensystem) ist in vielen Hirnregionen nachgewiesen worden, auch in der Amygdala und im Thalamus. Die Infusion von NMDA-Antagonisten blockiert die Angst-Konditionierung und deren Extinktion, nicht aber das Gedächtnis für schon erworbene Informationen. Auch die Extinktion ist also ein aktiver Prozeß. Ampakine (AMPA-Agonisten, die an den Glutamatrezeptoren der Nervenzellen indirekt die NMDA-Rezeptor-Aktivierung erhöhen, auf der die Langzeitpotenzierung beruht) verstärken die Konditionierung (siehe Zusatzinfo Neurotransmitter und Angst). Außerdem kommt es bei der Angst-Konditionierung zu einer Genaktivierung, wie bei anderen Lernvorgängen auch. Für das Verständnis und die Therapie von Angststörungen ist es wichtig, den kausalen Mechanismus der Extinktion zu verstehen. Diese Auslöschung findet statt, wenn der konditionierte Reiz (z.B. Ton) längerfristig ohne den unkonditionierten Reiz (z.B. Elektroschock) auftritt. Dieses „Verlernen“ der Angstreaktion bedeutet aber kein völliges Vergessen, sondern lediglich die Ausbildung einer neuronalen Kontrolle, denn die Furchtreaktion taucht zuweilen wieder auf, unter Streß sogar in anderen Situationen (auf diese Weise könnten Phobien entstehen).

Forcierten Extinktion.

Ein Therapie-Ansatz gegen Angststörungen basiert auf der forcierten Extinktion, d.h. einer gezielten Auslöschung der gelernten, Angst erzeugenden Assoziation. Allerdings sind Angstreaktionen einer Extinktion schwer zugänglich. Diese wird vom präfrontalen Cortex vermittelt. Läsionen des auditorischen oder visuellen Cortex, die keinerlei Auswirkungen auf die Konditionierung von einfachen hör- oder sichtbaren Reizen haben, verzögern die Extinktion beträchtlich, ebenso Läsionen des präfrontalen Cortex. Es scheint also, daß die Großhirnrinde zwar nicht für das Lernen, aber für das Verlernen der Angstreaktion notwendig ist. Einzelzell-Ableitungen zeigten, daß die Konditionierung die Ausbildung von Zellverbänden (cell-assemblies) hervorruft, die als das neuronale Korrelat des Lernvorgangs angesehen werden. Sie verändern ihre Feuerrate, wenn neutrale mit aversiven Stimuli gepaart werden. Manche Zellen habituieren selbst bei häufiger Wiederholung nicht (Tiere gewöhnen sich nicht an furchtauslösende Stimuli, wenn diese z.B. immer wieder mit Schmerzen assoziiert sind). Die Zellverbände bleiben auch erhalten, wenn durch Extinktion die sie aktivierenden neuronalen Verbindungen modifiziert werden. Das erklärt, warum es dennoch zu Angstreaktionen kommen kann (aufgrund spontaner Aktivitäten) bzw. diese sich rasch wieder manifestieren können (aufgrund neu geknüpfter Eingänge). Es scheint, daß die Amygdala traumatische Erlebnisse unauslöschlich bewahrt. Wenn die impliziten Erinnerungen, die Angststörungen zugrunde liegen, letztlich also nicht vergessen und verlernt werden können, muß der Betroffene versuchen, halbwegs die Kontrolle über sie zu gewinnen. In der Verhaltenstherapie geschieht dies vermutlich durch eine Art implizites Lernen über die Schaltung vom präfrontalen Cortex zur Amygdala, während Psychoanalyse und kognitive Therapie die bewußte Einsicht und Bewertung verändern, wobei das explizite Wissen über das Gedächtnissystem im Schläfenlappen und anderen corticalen Bereichen Einfluß auf die Amygdala nimmt. Psychotherapie ist also ebenfalls eine Möglichkeit, Hirnstrukturen gleichsam neu zu „verdrahten“. Da die Verbindungen vom Cortex zur Amygdala weit schwächer sind als umgekehrt, ist es nicht verwunderlich, warum einerseits unser Bewußtsein leicht von Emotionen beherrscht werden kann, während es andererseits schwerfällt und langwieriger Anstrengungen bedarf, bewußte Kontrolle über die emotionalen Impulse zu erlangen.

Philosophie und Kulturgeschichte der Angst.

Im antiken Griechenland wurde Angst immer auf konkrete Objekte bezogen; die „Weltangst“ ist eine neuere Erscheinung, an deren Entstehung möglicherweise das für den einzelnen nicht mehr überschaubare römische Weltreich mitgewirkt hat. Allerdings ist die psychische (subjektive) Komponente durchaus individuell verschieden, so daß historische Generalisierungen nur eine begrenzte Aussagekraft haben. Platon und Aristoteles begriffen Angst primär als physische Reaktion. Bei Aristoteles ist sie im Bereich der körperlichen Empfindungen angesiedelt und kommt in den Reflexionen „De Anima“ („Über die Seele“) nicht vor. Auch etymologisch ist Angst (genauso wie anxiety, angoisse usw.) ein physisches Phänomen (von griech. agchein = würgen, drosseln, sich ängstigen; latein. angor = Würgen, Beklemmung, Angst, angustia = Enge, angere = [die Kehle] zuschnüren, [das Herz] beklemmen). In der Stoa wurde die Unlust an Gegenwärtigem (aegritudo, Ärger) von der Unlust an Bevorstehendem (metus, Furcht) unterschieden und zu überwinden angestrebt. Auch die Religionen versprechen eine Befreiung von Angst („In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“, wird z.B. im Johannes-Evangelium (16, 33) gepredigt), obwohl sie andererseits auch Ängste schüren („jüngstes Gericht“, Höllenstrafe für die Sünden, Androhung der Reinkarnation oder ewigen Wiederkehr). Augustinus, der die Angst als eine der vier menschlichen Hauptleidenschaften sah, und Thomas von Aquin unterschieden die niedrige Furcht vor Strafe (timor servilis) von der höher bewerteten Furcht vor Schuld aus Ehrfurcht vor Gott (timor castus). Im Fortschrittsglauben und Rationalismus der Neuzeit spielte die Angst als philosophisches Thema keine Rolle. Bei Sören Kierkegaard wurde die existenzielle Angst als ein Charakteristikum des menschlichen Denkens und der Willensfreiheit begriffen, aber ihre Überwindung im Sprung in den Glauben erhofft. Die von seinen Analysen inspirierte Existenzphilosophie dagegen akzeptierte die Weltlichkeit des Menschen, ohne daß Angst und Ungesichertheit des Lebens zu überwinden wären. „Wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst“, konstatierte Martin Heidegger, für den sich das Dasein vor seinem Nicht-Sein ängstigt und als „Sein zum Tode“ gefaßt wird. Kennzeichnend ist eine prinzipielle Ungewißheit des Gelingens der eigenen Entwürfe sowie die Erfahrung des „Geworfen-Seins“ in eine Welt, die erst erschlossen werden muß oder – mit Albert Camus – hoffnungslos absurd erscheint, eines Ausgesetztseins in die Welt, die das Individuum zu verlieren fürchtet oder in die es sich zu verlieren fürchtet. Für Jean-Paul Sartre war Angst eine „Qualität unseres Bewußtseins“ als die Vorbedingung der Freiheit, zu der der Mensch verurteilt sei. Angst muß also nicht notwendig als Übel verstanden werden, sondern kann den Menschen auch zu seinem „eigentlichen Sein“ führen, das Heidegger als Entschlossenheit begriff, Sartre als Engagement und Camus sowohl mit solitaire (Individuierung, Einsamkeit) als auch mit solidaire (Solidarität, Gemeinsamkeit) verband. Angst als existenzielle Befindlichkeit resultiert aus einer als verloren gegangen gewähnten Einheit (mit der Welt, den anderen Menschen und/oder sich selbst) im Gefolge von Selbst- und Todesbewußtsein. Wird sie nicht ausgehalten, sondern verdrängt, sind Fluchtreaktionen die Folge, z.B. in Masse und Konformität, in Besitz- oder Machtstreben, in Rausch, Riten, Religionen oder Rationalisierungen. „Die Naturgeschichte zeigt uns einen angstvollen Kampf ums Dasein, und dieser nämliche Kampf erstreckt sich bis weit in Völkerleben und Geschichte hinein“, sagte Jacob Burckhardt 1868 in seiner Vorlesung „Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte“. Angst und ihre Vermeidung sind ein starker Antrieb, ein subtiler Imperativ der Evolution, ohne den der Entwicklung des Lebens einschließlich der menschlichen Kulturgeschichte viele Wege versperrt geblieben wären. Die Verringerung der Wahrscheinlichkeit, in furchtauslösende Situationen zu geraten, ist eine bemerkenswerte Leistung der Spezies Mensch. Auf Schlangen, Tiger und Krokodile treffen wir in unseren Zivilisationsburgen kaum noch – abgesehen von den Zoos, die unsere Ansicht bestärken, daß das Leben sicherer geworden sei. Doch nicht alle Gefahren treten in Gestalt „blutrünstiger Bestien“ auf, und in unserem Bestreben, die Natur zu unterwerfen, haben wir neue Gefahren geschaffen: von Schnellfeuerwaffen und Autobahnen bis hin zu Treibhausgasen und Atombomben. Daß diese selbst gemachten Gefahren oft viel zu abstrakt und undurchschaubar sind (oder nur in unserer Naivität beherrschbar erscheinen), um sich wirklich vor ihnen zu fürchten, ist kein Vorteil. Wenn William James einmal sagte, daß an nichts die Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier so deutlich sei wie am Rückgang der Bedingungen, unter denen beim Menschen Furcht ausgelöst wird, dann erscheint dies heute durchaus als zweifelhafter Fortschritt. Außerdem: Auch wenn die Anlässe zum Fürchten abgenommen haben mögen, dürfte die Angst in einem erweiterten Sinn in unserer Gattung sogar kulminiert sein. „Vielleicht ist der Mensch das furchtsamste Wesen, da zu der elementaren Angst vor Freßfeinden und feindseligen Artgenossen intellektuell begründete Existenzängste hinzukommen“, konstatierte Irenäus Eibl-Eibesfeldt. – „Die Fähigkeit, rasch Erinnerungen von Reizen zu bilden, die mit Gefahren zusammenhängen, sie lange zu behalten und sie automatisch zu nutzen, wenn künftig ähnliche Situationen auftreten, ist eine der mächtigsten und wirksamsten Lern- und Gedächtnisfunktionen des Gehirns“, schrieb Joseph LeDoux. „Aber dieser unglaubliche Luxus ist kostspielig. Wir haben mehr Ängste, als nötig wäre, und schuld daran ist vermutlich unser äußerst wirksames Furcht-Konditionierungssystem zusammen mit einer extrem ausgeprägten Fähigkeit, uns Ängste auszumalen, und eine Unfähigkeit, sie zu kontrollieren.“ Die Ambivalenz von Angst und Furcht ist also offenkundig und kaum aufzulösen. Einerseits bewahrt uns die Furcht vor gefährlichen Situationen, und deshalb wäre ihr Fehlen selbst ein Grund zum Fürchten. Andererseits ist Angst eine Voraussetzung, die sich verschiedene soziale Formen der Unterdrückung bis hin zum politischen Terror kräftig zunutze machen. Außerdem kann die Angst pathologische Dimensionen erlangen und das Leben untergraben, sie kann anstecken und lähmen und wird dann selbst zur Gefahr. „Es ist besser, die Angst auszusprechen, als sich weiter mit ihr zu tragen“, heißt es bei Elias Canetti. „Am besten ist es, sie aufzuschreiben, ohne sie auszusprechen“.

Angst bei Tieren.

Werden Angst und Furcht behavioral definiert, kann man sie nicht nur höheren Wirbeltieren einschließlich des Menschen zuschreiben, sondern auch z.B. Würmern, Insekten und Weichtieren. Angst und Furcht sind jedoch bei Wirbeltieren am besten untersucht und werden ihnen über einen Analogieschluß auch am ehesten als Emotion zugestanden. – Attrappenversuche von Konrad Lorenz haben ergeben, daß vielen Tieren ein Feindschema angeboren ist. Chemische Schreckstoffe lösen eine spezifische Schreckreaktion aus. Das Tier lebt in ständiger ängstlicher Bereitschaft, und diese Angst ist in höchstem Maße lebenswichtig. Lorenz war davon überzeugt, daß seit „Äonen immer in der Naturgeschichte diejenigen die besten Überlebenschancen hatten, die sich am meisten fürchteten“. – Bei vielen frei lebenden Tieren scheint die Fluchtbereitschaft dauernd aktiviert, während dies für Beuteerwerb und Sexualität nur periodisch zutrifft. Selbst im Schlaf sind Tiere für angstauslösende Reize offen. Es wird diskutiert, daß die Ängstlichkeit einer Art jeweils ihrer spezifischen Gefährdung durch Freßfeinde entspricht. Bei zahlreichen Spezies ist Angst anzeigendes Verhalten fast immer zu beobachten, z.B. als Dauerwachsamkeit, Scheuen, Sichern, als Flucht oder in Warnrufen. Selbst Trennungsangst wird bei Jungtieren (wie beim Menschen) beobachtet, was darauf hinweist, daß körperliche Nähe zum Elterntier „gesucht“ und Trennung hiervon „gefürchtet“ wird. In Situationen stärkster Bedrohung tritt bei manchen Arten eine Angstlähmung ein, die mit einer Akinese (Totstellreflex) einhergeht.

Was Menschen fürchten.

Umfragen zufolge fürchten Menschen am meisten gefährliche Tiere – insbesondere Schlangen (bis zu 25 %) – und Höhen, was vielleicht teilweise biologisch bedingt ist. Häufig genannt werden auch Verletzungen und Krankheiten, öffentliche Plätze, Verkehr, Tunnels, enge Räume. Kinder berichten von der Furcht vor der Dunkelheit, doch diese verliert sich mit dem Älterwerden.

Rolle der Amygdala:
Angst – konditionierte Angst:

Angst – unbewußtes Angstgedächtnis.

Daß das Angstgedächtnis unabhängig ist vom expliziten Gedächtnis und unbewußt wirksam werden kann, hat erstmals der Genfer Arzt und Psychologe Edouard Claparède (1873-1940) Anfang des 20. Jahrhunderts erkannt. Er behandelte eine Patientin mit anterograder Amnesie, die sich keine neuen Ereignisse mehr merken konnte. Bei jeder Begegnung mußte er sich ihr neu vorstellen. Einmal hielt er bei der Begrüßung einen Reißnagel in der Handfläche verborgen, was bei der Patientin Schmerz und Schreck auslöste. Beim nächsten Treffen weigerte sie sich, dem Arzt die Hand zu schütteln, obwohl sie dafür keine vernünftige Erklärung geben konnte. Claparède schloß daraus, daß sich hier ein zweites, unbewußtes Gedächtnis warnend bemerkbar gemacht hatte, obwohl sich die Patientin an den Grund ihrer Aversion nicht mehr erinnern konnte.

Neurotransmitter und Angst.

Bei der Entstehung von Angst spielen verschiedene Neurotransmitter eine Rolle: Glutaminsäure (über die NMDA- und AMPA-Rezeptoren), Acetylcholin und Serotonin. Die Wirkung von Psychopharmaka – Benzodiazepine (wie Diazepam) und Serotonin-Agonisten – legt nahe, daß ein Mangel an GABAerger und serotonerger Übertragung an der Ursache von Angststörungen beteiligt ist. Dafür sprechen auch Experimente mit Knock-out-Mäusen, bei denen gentechnisch bestimmte Rezeptoren ausgeschaltet wurden. Tierversuche zeigten, daß lokale Infusionen von Benzodiazepinen in die an GABAA-Rezeptoren reiche Amygdala angstvermindernde Auswirkungen haben, während GABA-Antagonisten diese anxiolytischen Effekte blockieren. Im limbischen System sind viele Opiatrezeptoren vorhanden. Opiate scheinen z.B. bei der Trennungsangst eine Rolle zu spielen. Wird ein Jungsäuger von der Mutter isoliert, werden Opiat-auslösende Neuronen gehemmt, so daß sich ein Mangel an Wohlbefinden einstellt und Kontaktrufe erfolgen. Durch Opiat-Zugabe nehmen diese ab, durch die Infusion von Opiathemmern zu. Außerdem wurde aus dem Gehirn von Mensch und Ratte ein Peptid aus 105 Aminosäuren isoliert, das in der Lage ist, Angstzustände zu erzeugen. Es ist ein Diazepam-Bindungsinhibitor (DBI), wahrscheinlich ein natürlicher Ligand des Benzodiazepinrezeptors, dem Wirkort vieler Tranquilizer, der seinerseits die Bindungskonstante des GABA-Rezeptor-Kanals moduliert. DBI ist nicht gleichmäßig im Gehirn verteilt, sondern in Gebieten konzentriert, die für Emotionen eine Rolle spielen, und hier wiederum in Bereichen mit besonders hoher Konzentration an GABA-Rezeptoren – (Quelle: Copyright 2000 Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg).

Mehr dazu:

Oft ist es ganz normal und sinnvoll, Angst zu empfinden. Angst warnt uns vor einer realen Gefahr und der erhöhte Ausstoß von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin bereitet uns in Sekundenschnelle auf die Kampf-oder-Flucht-Reaktion vor. Treten Ängste jedoch auf, obwohl keine reale Gefahr besteht oder die Bedrohung längst nicht so groß ist, wie angenommen, wenn Sie die Angst also nicht mehr in den Griff bekommen und kaum mehr handlungsfähig sind oder keine Lebensfreude mehr empfinden, dann schränken die Ängste Sie in Beruf und Privatleben übermäßig ein. Es könnte eine Angststörung bestehen.

In diesem Artikel finden Sie viele nützliche Informationen zu Angst, Panik und Angststörungen.

Was wollte Munch mit dem „Schrei“ sagen?

Angst für alle? Der „Schrei“ von Edvard Munch gilt als allgemein formulierte Schilderung von Furcht. Ein von ihm persönlich ins Bild geschriebener Satz stellt das infrage, eröffnet aber Raum für neue Deutungen.

Von Sigmar Polke stammt einer der ironischsten Bildtitel – in nachgeahmter Schreibmaschinenschrift malte er 1969 den Satz „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“ auf die Leinwand. Es scheint, als habe Polke mit seiner pseudo-eschatologischen Begründung für das Malen eines Bildes etwas Ähnliches wie Edvard Munch ausdrücken wollen, was nun durch kunsttechnologische und graphologische Untersuchungen auf dessen „Schrei“ von 1893 im Nationalmuseum Oslo bestätigt wurde: Auf diesem Hauptwerk des Museums findet sich in der oberen linken Ecke eine Aufschrift in Bleistift vom Künstler selbst. Die Handschrift als auch Ereignisse der Entstehungszeit ließen keinen Zweifel daran, dass die Inschrift von Munch stamme und nicht nachträglich aufgebracht worden sei, so das Museum. Auf Norwegisch steht da „Kan kun være malet af en gal Mand!“, „Kann nur von einem verrückten Mann gemalt worden sein!“

Munch markiert damit sein bedeutendstes Bild als von einem Angstgetriebenen gemalt, als stünde er außerhalb seiner selbst und als hätten ihm höhere „Stimmen“ das Malen dieses markerschütternden Motivs eingegeben. Der Satz verstärkt die gängige Deutung: Mit der Figur, die Mund und Augen aufreißt, verarbeitete Munch laut eigener Aussage eine Angstattacke während eines Spaziergangs bei Sonnenuntergang: „Ich stand allein, bebend vor Angst. Mir war, als ginge ein mächtiger Schrei durch die Natur.“

Angst, auf den mittleren roten Streif in den Himmel geschrieben: „Kan kun være malet af en gal Mand!“, also „Kann nur von einem verrückten Mann gemalt worden sein!“

Angst, auf den mittleren roten Streif in den Himmel geschrieben: „Kan kun være malet af en gal Mand!“, also „Kann nur von einem verrückten Mann gemalt worden sein!“ :Bild: Nasjonalmuseet Oslo

War ursprünglich der „Schrei der Natur“ durch Munch als seismisch empfindsames Medium hindurch gemeint, ist das Bild heute inhaltlich auf den Schrei der zu sehenden Figur verkürzt. Und ist das Gemälde so eine allgemeine Verkörperung eher diffuser Ängste geworden, die einen jäh überkommen können, spiegelt die Aufschrift eine sehr konkrete Furcht des Malers, nämlich aus familiärer Veranlagung verrückt zu werden. Munchs Schwester wurde in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt, Vater und Großvater waren depressiv. Überliefert ist, dass der Direktor des norwegischen Kunstmuseums nach der öffentlichen Erstpräsentation des Bildes 1895 schrieb, man könne Munch nun nicht mehr ernst nehmen und für geistig gesund halten.

Gemaltes schwarzromantisches Märchen vor Nadelwaldkulisse: Auch auf Edvard Munchs spätem Bild „Asche“ von 1925 findet sich ein Medium für die Schwingungen der Natur, was der Künstler seit den 1890er Jahren immer wieder als Thema aufgriff.

Gemaltes schwarzromantisches Märchen vor Nadelwaldkulisse: Auch auf Edvard Munchs spätem Bild „Asche“ von 1925 findet sich ein Medium für die Schwingungen der Natur, was der Künstler seit den 1890er-Jahren immer wieder als Thema aufgriff. :Bild: Munch Museum

Dass sich die Aufschrift nur auf der frühesten der vier Versionen des „Schreis“ von 1893, nicht aber auf den beiden Repliken von Künstlerhand ebenfalls im Besitz des Nationalmuseums (darunter die Version von 1910, bei der die Figur wie ein immaterielles Gespenst zerfließt und endgültig Teil der Natur wird) und ebenso wenig auf der vierten in Privatbesitz findet, heißt nicht, dass Munch in den folgenden zwanzig Jahren seelisch stabiler geworden wäre. Immer wieder setzte er seine frisch vollendeten Gemälde bei Regen und Schnee den Unbilden eben dieser „schreienden“ Natur aus, depressive Abstürze und Alkoholexzesse häuften sich. Ähnlich wie bei dem  Kunsthistoriker Aby Warburg – für dessen Familie Munch gleich mehrere Porträts fertigte – dessen berühmter Satz „Du lebst und thust mir nichts“ als geplantes Motto seiner Psychologie der Kunst die durchaus bedrohliche „Natur“ des Bildes bannen sollte, war es wohl auch bei Munch: wenn sich im „Schrei“ vor seinen Augen – die Figur mit dem Totenschädelkopf ist ja der Künstler selbst – die Natur vollständig in Schlieren auflöst und „der Himmel rot wie Blut [wurde] und Wehmut“ ihn befiel, wie er über das Bild schreibt, dann muss er vielleicht verrückt sein. Aber er sieht und fühlt diesen apokalyptischen Ausnahmezustand auch als Einziger und wird damit zum Vorbild fast aller kommenden Expressionisten.

Marianne Williamson zur Angst:

Unsere tiefste Angst ist nicht, ungenügend zu sein.

Unsere tiefste Angst ist, dass wir über alle Maßen kraftvoll sind.

Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, was wir am meisten fürchten,

Wir fragen uns, wer bin ich denn, um von mir zu glauben, da ich brillant, großartig, begabt und einzigartig bin?

Aber genau darum geht es, warum solltest Du es nicht sein?

Du bist ein Kind Gottes.

Dich kleinzumachen nützt der Welt nicht.

Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen, nur damit sich andere Menschen um dich herum nicht verunsichert fühlen.

Wir alle sind aufgefordert, wie die Kinder zu strahlen.

Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, auf die Welt zu bringen.

Sie ist nicht in einigen von uns, sie ist in jedem.

Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen Menschen unbewußt die Erlaubnis, das Gleiche zu tun.

Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unser Dasein automatisch die anderen.

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