Sozialarbeitswissenschaft (SAW).
Das systemische Paradigma der Sozialen Arbeit – Die Zürcher Schule und das systemische Paradigma der Sozialen Arbeit – Prof. Dr. em. Richard Sorg, Hamburg – 2008 zum Jubiläumsanlass „100 Jahre Ausbildung in Sozialer Arbeit in Zürich“ des Departements Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW.
Die Zürcher Schule ist eine Denkschule, eine Scientific Community aus Wissenschaftlerinnen und Hochschullehrern wie auch aus Praktikern, die nach einem gemeinsamen wissenschaftlichen, theoretisch-methodischen Grundkonzept (Paradigma) arbeiten: eine Kombination von wissenschaftlicher Disziplin und praktizierender Profession im Bereich der Sozialen Arbeit. Sie ist heute im gesamten deutschsprachigen Bereich bekannt und hat zunehmend an Einfluss gewonnen in Forschung, Lehre und Praxis der Sozialen Arbeit [i]. Gegründet wurde sie in den 1970er und 1980er Jahren von der international renommierten, damals noch an der Zürcher Hochschule für Soziale Arbeit (HSSAZ) lehrenden Wissenschaftlerin (und früheren Sozialarbeiterin) Silvia Staub- Bernasconi [ii], die vorwiegend in Werner Obrecht [iii], ihrem früheren Kollegen vom Soziologischen Institut der Universität Zürich, einen wichtigen Kooperationspartner fand, der maßgeblich zur theoretischen Fundierung und Weiterentwicklung des Paradigmas beigetragen hat. Hinzu kamen weitere Mitstreiter wie Ruth Brack [iv] aus Bern und Kaspar Geiser [v], beide ausgewiesen im sogenannten Methoden-Bereich, um nur die bekanntesten, durch Publikationen hervorgetretenen Repräsentanten zu nennen. Der Kern dieses Netzwerks von Hochschullehrenden, zu denen außer den Genannten auch Heinrich Bösch, Petra Gregusch, Adrienne Marti, Edi Martin und Silvia Wyss zählten, war institutionell an der HSSAZ in der Vollzeitausbildung (VSA) verankert, die sie als Team gestalteten und führten. Dieses Team arbeitete über zwei Jahrzehnte daran, die Soziale Arbeit wissenschaftlich zu fundieren, das heißt, eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit bzw.
Sozialarbeitswissenschaft (SAW) und eine curriculare, lehrbare Form dafür zu entwickeln. Das dabei zunehmend differenzierter und komplexer gewordene wissenschaftliche Paradigma, bei dem es sich um das bislang elaborierteste SAW-Modell im gesamten deutschsprachigen Raum handelt, wurde nicht nur in der Lehre und Ausbildung an der HSSAZ (insbesondere im VSA-Bereich) leitend, sondern fand auch Anwendung in diversen Praxisstellen der Sozialen Arbeit in Zürich und zunehmend über Zürich und die Schweiz hinaus auch in Deutschland und Österreich.
Dieses SAW-Modell oder Paradigma ist ein durch einen gemeinsamen metatheoretischen (philosophischen) Bezugsrahmen fundiertes und zusammengehaltenes System von Theorien zu sozial arbeitswissenschaftlichen Themen. So gehören dazu eine Theorie sozialer Probleme, eine Bedürfnistheorie, eine Bild-Code-Theorie, eine allgemeine Handlungstheorie und eine Reihe spezieller Handlungstheorien sowie eine theoriegeleitete Methodenentwicklung, einschließlich einer Reihe von praktisch handhabbaren, ausdifferenzierten analytisch-diagnostischen Verfahren (W-Fragen, Systemische Denkfigur, die 24-feldrige Problemkarte mit Glossar etc.) [vi]. Bei dem Modell handelt es sich um einen systemtheoretischen Ansatz, der sich deutlich unterscheidet zum Beispiel von der Luhmann- Schule oder von Konzepten eines Radikalen Konstruktivismus, wie sie innerhalb der Sozialen Arbeit ebenfalls vertreten werden [vii]. Zentrale philosophische Referenztheorien sind hauptsächlich die von Mario Bunge [viii] in seinem umfangreichen Oeuvre entwickelte Systemtheorie sowie die dazu gehörende Wissenschaftsauffassung des Wissenschaftlichen Realismus. Bunge (geb. 1919) ist ein argentinisch-kanadischer Philosoph und ehemaliger Physiker, der aus der Theorietradition der Analytischen Philosophie kommt, darin aber eine materialistische Position vertritt. Die Zürcher Schule folgt mit ihrem Systemtheoretischen Paradigma (SPSA) [ix] weithin Bunges integrativer Philosophie mit ihrer engen Verbindung zu den Naturwissenschaften und den an der Suche nach Gesetzmäßigkeiten orientierten Sozialwissenschaften.
Entstanden ist die Zürcher Schule in einem bestimmten professions-, hochschul- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext: Durch die Überführung der Höheren Fachschulen für Soziale Arbeit in den tertiären (hochschulischen) Bildungssektor in Gestalt der Fachhochschulen sollte die weitere Professionalisierung im Berufsfeld Sozialer Arbeit durch eine wissenschaftlich gestützte Ausbildung befördert werden. Dieser berufs- und hochschulpolitische Kontext bildete den Boden für die sich vorwiegend an den Fachhochschulen formierende Forderung (die sich zu einer regelrechten Bewegung entwickelte) nach einer eigenständigen Wissenschaft der Sozialen Arbeit (SAW). Hierzu einen konkreten Beitrag zu leisten, war ein wichtiger Beweggrund für die Entstehung der Zürcher Schule der Sozialen Arbeit und der Sozialarbeitswissenschaft. Ihre Antwort auf diese Herausforderung war die Ausarbeitung des Systemtheoretischen Paradigmas. Danach stellt die SAW als disziplinäre Basis der Sozialen Arbeit – dem System aus Praxis, Ausbildung, Profession und wissenschaftlicher Disziplin – das fu die Profession Soziale Arbeit erforderliche Wissen bereit bzw. prüft und reflektiert das in der Praxis verwendete Wissen, wobei «Wissen» in einem weiten Sinn verstanden wird (unter Einschluss von Fertigkeiten, Routinen etc.). Indem sie durch Forschung und Praxisevaluation einerseits «eigenes», auf die Soziale Arbeit hin fokussiertes Wissen produziert, andererseits «fremdes» Wissen aus anderen Disziplinen und Professionen in die Soziale Arbeit integriert, lässt sie sich als eine integrative, transdisziplinäre Handlungswissenschaft charakterisieren [x].
In der Sicht des SPSA befasst sich Soziale Arbeit mit Individuen (verstanden als Mitglieder sozialer Systeme) und mit sozialen Systemen (wie Familien, Gruppen, Organisationen, Gemeinwesen mit Individuen als Mitgliedern). Ihre Aufgabe bzw. ihr Ziel ist es, biopsychosoziale Probleme von Individuen in sozialen Kontexten zu bearbeiten; sei es, solche Probleme zu lösen oder zu lindern (Intervention), sei es, das Entstehen solcher Probleme zu verhindern (Prävention).
Mit ihrem Paradigma und ihrem SAW-Konzept ist die Züricher Schule anschlussfähig an die internationale sozial arbeitswissenschaftliche Diskussion und entspricht dem Konsens, wie er zum Beispiel formuliert ist in der IFSW-Definition (verabschiedet im August 2000 in Montreal/Quebec von der International Federation of Social Workers), die in deutscher Übersetzung lautet: «Soziale Arbeit ist eine Profession, die sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen fördert, um ihr Wohlbefinden zu verbessern. Indem sie sich auf Theorien menschlichen Verhaltens sowie sozialer Systeme als Erklärungsbasis stützt, interveniert Soziale Arbeit im Schnittpunkt zwischen Individuum und Umwelt/Gesellschaft. Dabei sind die Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit von fundamentaler Bedeutung.»
Fußnoten:
- Die Bezeichnung Züricher Schule ist inzwischen ein verbreiteter Terminus und findet sich
z.B. auch im Überblickswerk von Ernst Engelke. Engelke, Ernst (2003): Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen. Lambertus, Freiburg i. Br., S. 400. Die Zürcher Schule, von der dieser Artikel handelt, ist nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Bewegung von Friedrich Liebling in den 1960er und 1970er Jahren in Zürich.
- Staub-Bernasconi, Silvia (2007). Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft, Systemische Grundlagen und professionelle Praxis – ein Bern: Haupt. Ferner Beat Schmocker
(Hg.) (2006). Liebe, Macht und Erkenntnis. Silvia Staub-Bernasconi und das Spannungsfeld Soziale Arbeit. Luzern: Interact, Freiburg i. Br.: Lambertus.
- Obrecht, Werner (2001). Das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit als Disziplin und als Profession. Eine transdisziplinäre Antwort auf die Situation der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Bereich und die Fragmentierung des professionellen Zürich: Hochschule für Soziale Arbeit (Zürcher Beiträge zur Theorie und Praxis Sozialer Arbeit, Bd. 4).
- Brack, Ruth, Geiser, Kaspar (Hg.) (2003). Aktenführung in der Sozialarbeit. Neue Perspektiven für die klientenbezogene Dokumentation als Beitrag zur Qualitätssicherung. Bern:
- Geiser, Kaspar (20073). Problem- und Ressourcenanalyse in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in die Systemische Denkfigur und ihre Luzern: Interact / Freiburg i. Br.: Lambertus.
- Staub-Bernasconi, Silvia (1998). Soziale Probleme – Soziale Berufe – Soziale In: Heiner, M., M. Meinhold, H. v. Spiegel, S. Staub-Bernasconi (Hg.). Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Freiburg i. Br.: Lambertus, S. 11–137.
- Hollstein-Brinkmann, Heino, Staub-Bernasconi, Silvia (Hg.) (2005). Systemtheorien im Was leisten Systemtheorien für die Soziale Arbeit? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Zu Bunges Philosophie gehört eine wissenschaftsorientierte Ontologie, verstanden als ein systemischer Materialismus oder Naturalismus, der die «Emergenz der jeweiligen Entwicklungsstufen der Natur berücksichtigt, sowie eine realistische Erkenntnis- und Vgl. Mahner, Martin, Mario Bunge (2000). Philosophische Grundlagen der Biologie, Berlin: Springer; Bunge, Mario, Martin Mahner (2004). Über die Natur der Dinge, Stuttgart: Hirzel. Ferner Klassen, Michael (2003). Was leisten Systemtheorien in der Sozialen Arbeit? Ein Vergleich der systemischen Ansätze von Niklas Luhmann und Mario Bunge. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt. Vgl. dazu auch das Interview mit Werner Obrecht http://www.sozialarbeit.ch/dokumente/bunge_spsa.pdf.
- Es handelt sich dabei um eine Systemtheorie-Variante, die ein zentraler Bestandteil eines in sich konsistenten wissenschaftsbasierten Weltbilds ist, orientiert an der heute in den Wissenschaften weitgehend geteilten Evolutionstheorie, wonach die Natur sich von der anorganischen Materie über die einfachsten organischen Lebensformen bis zur menschlich- gesellschaftlichen Welt in Stufen entwickelt hat, wobei jede Stufe neue «emergente» Eigenschaften Diese Stufen oder Ebenen sind wichtig für die Differenzierung in der Art der sozialen Probleme, mit denen es die Soziale Arbeit zu tun hat. Beispiel: Auch wenn der Mensch (ein selbstwissensfähiges Biosystem) nicht ohne seine physikalischen, chemischen, biologischen, psychischen Eigenschaften und Prozesse begriffen werden kann, können seine (den genannten gegenüber) emergenten Eigenschaften, nämlich auch ein soziales und kulturelles Wesen zu sein, nicht durch die Reduktion auf seine biologischen Eigenschaften hinreichend verstanden und erklärt werden. So verbietet sich für die Zürcher Schule jede Art von Reduktionismus (ob in Gestalt des Physikalismus, Biologismus, Psychologismus, Soziologismus oder Ökonomismus), wie man sie auch aus der Theoriegeschichte der Sozialen Arbeit kennt.
- dazu das vierstufige Schema (siehe unten), in dem Werner Obrecht (2001) das für die Soziale Arbeit generierte und systematisierte Wissen übersichtlich veranschaulicht, das zugleich als Modell für alle professionsbezogenen Handlungswissenschaften dienen kann, also in seiner Reichweite über die Soziale Arbeit hinausweist.
Abbildung. 1: Die Struktur der Sozialarbeitswissenschaft in der Sicht des systemtheoretischen Paradigmas.
Quelle: Obrecht (2001, S. 20).
Die vier Stufen oder Ebenen benötigten Wissens sind: 1. Metatheorien (insbesondere aus der Ontologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der Ethik). 2. Objekttheorien (aus der Biologie und Psychologie bis zu den Sozialwissenschaften). 3. Allgemeine Handlungstheorien. 4. Spezielle Handlungstheorien (Methoden). Vgl. auch die Anwendung des SPSA in der Arbeit eines jüngeren Wissenschaftlers wie Stefan Borrmann. Borrmann, Stefan (2005). Soziale Arbeit mit rechten Jugendcliquen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Obrecht, W. (2001). Das Systemtheoretische Paradigma der Disziplin und der Profession der Sozialen Arbeit. Eine transdisziplinäre Antwort auf das Problem der Fragmentierung des professionellen Wissens und die unvollständige Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Zürcher Beiträge zur Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Zürcher Fachhochschule, Hochschule für Soziale Arbeit.
Weiterführende Links:
- GOTT.
- Nahrungs-Arten.
- Mensch – Menschenbild – Menschenwürde.
- Albert Einstein – Gottes-Verständnis.
- Fair-Fairness – Reziprozitäten.
- Gehirn.
- G.E.L.D..
- GÜTE – GUT.
- Ehrbarer Kaufmann.
- EKS – Engpasskonzentrierte Strategie und MMZSG.
- Homöostase.
- System-Körper-Sprache.
- Viable-System-System-Konzept.
- System-System-Konzept nach Gurdjieff-Theorie und -Praxis.
- Salutogenese.
- Regelungstechnik.
- Regelung (Natur und Technik).
- Chemisches Gleichgewicht.
- Thermodynamik.
- Allostase.